Bosnien und Herzegowina: Mit Überraschungseiern zum Wahlergebnis

Analyse

Seit Jahrzehnten kommt etwas „neue Dynamik“ in die Westbalkan-EU Integration, begründet durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine und damit einhergehenden neuen geopolitischen Sicherheitsinteressen. Eine sicherheitspolitische Schwachstelle der Region ist die fragile Staatlichkeit in Bosnien und Herzegowina, die in jüngster Zeit Ziel von fraglichen Internationalen Interventionen ist.

Im April fragten wir 30 Jahre nach Kriegsbeginn in Bosnien nach der Relevanz der ausgerufenen Zeitenwende auch für Bosnien und Herzegowina. Im Laufe des Jahres erhielt der EU-Annäherungsprozess mit dem Westlichen Balkan eine neue Dynamik, wesentlich durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine und damit einhergehenden neuen geopolitischen Sicherheitsinteressen begründet. Gilt die Zeitenwende damit für die Länder des Westbalkans?

Neue Dynamik in der Westbalkan-EU-Annäherung

Jahrelang bewegte sich nichts in Sachen EU-Integration und Westbalkan. Kosovo wartet bis heute auf die versprochene Visa-Freiheit, für die das Land vor langer Zeit schon alle Bedingungen erfüllte; Mazedonien änderte seinen Namen in Nordmazedonien, wurde erst vertröstet und dann von Bulgarien blockiert und Albanien hing gemeinsam mit Nordmazedonien als Beitrittskandidat in der Warteschleife für die Aufnahme von Verhandlungen. Die „Zeitenwende“ umschiffte den Westbalkan, im Juni wurden Ukraine, Moldau und Georgien der Kandidatenstatus verliehen. Für die Westbalkanländer änderte sich: genau nichts. Überaus frustriert fuhren die Regierungsschefs der Westbalkanländer, die im Juni ebenfalls in Brüssel waren, nach Hause; Albaniens Ministerpräsident Edi Rama schäumte und sprach von „Warten auf Godot“, sein mazedonischer Kollege Dimitar Kovačevski drückte sich etwas diplomatischer aus: ein „ernstes Problem“ sei das und ein „schwerer Schlag für die Glaubwürdigkeit der EU[1]“.

Und dann passierte doch etwas. Das von Serbien und Albanien initiierte Projekt „Open Balkan“, ein Parallelprojekt zum Berlin-Prozess, dem sich auch Nordmazedonien angeschlossen hat, gewann an Attraktivität – zumindest für Montenegros Regierungschef Dritan Abazović, der laut über einen Beitritt nachdachte. Bosnien und Herzegowina stand schon länger in internationalem Fokus der Aufmerksamkeit, hin und wieder mit der Besorgnis verbunden, es könne ein gewaltsamer Konflikt ausbrechen. Der Vorsitzende der stärksten nationalistischen Partei SNSD, Milorad Dodik gleichzeitig auch serbisches Mitglied im dreiköpfigen Staatspräsidium, hielt auch nach dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine Russland die Treue und besuchte im bosnischen Wahlkampf im September Putin. Serbien zündelte im Kosovo, holte das russische Propaganda-Medium RT (ex-Russia Today) ins Land und lässt die russische Söldnertruppe Wagner Group einen Kulturverein gründen. In Nordmazedonien stiegen die Spannungen zwischen den politischen Lagern ebenso wie in Albanien. Alles Entwicklungen, die sich eher von der EU-Integration fortbewegen.

Es war höchste Zeit für Berlin und Brüssel, eine neue Dynamik zu entfachen. Nachdem Nordmazedonien zähneknirschend das von Frankreich eingefädelte Abkommen mit Bulgarien unterschrieb, nahm die EU offiziell die Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien auf. Der Berlin-Prozess wurde wiederbelebt, alle Westbalkan-Staaten einigten sich auf drei Abkommen die das Reise- und Freizügigkeitsrecht in der Region erleichtern durch die gegenseitige Anerkennung von Personalausweisdokumenten, Hochschul- und Berufsschulabschlüssen. Das ist ein Meilenstein für den Gemeinsamen Regionalen Markt – und lässt die Open-Balkan-Initiative obsolet erscheinen. Wenn denn die Abkommen tatsächlich umgesetzt werden.

Gerade fand am 6. Dezember in Tirana der EU-Westbalkan Gipfel statt, erstmalig in einem Westbalkan Land, was symbolisch wichtig war. Ebenso wichtig war, dass alle Länder teilgenommen haben. Selbst Serbiens Präsident Vučić war letzen Endes mit von der Partie, obwohl er das aufgrund der eskalierenden Situation zwischen Serbien und Kosovo fast abgesagt hätte. Die von allen verabschiedete Erklärung enthält, außer den regelmäßig beteuerten Formulierungen von gemeinsamen Werten, Reformabsichten, Korruptionsbekämpfung, auch die Verurteilung des Angriffkriegs Russlands auf die Ukraine – was sowohl von Serbien als auch von der Vorsitzenden des dreiköpfigen bosnisch-herzegowinischen Staatspräsidiums Željka Cvijanović, einer Parteikollegin Dodiks,  unterzeichnet wurde. Allerdings saß sie bereits zwei Tage später mit dem russischen Botschafter in Bosnien-Herzegowina zu Beratungen zusammen.

Auch sichert die EU den Westbalkan-Ländern finanzielle Zuschüsse in Höhe von 1 Mrd. EUR zur Linderung der Folgen der Energiekrise zu. So konkret und nützlich die Wirtschaftshilfen für Stabilität in der Region sind, so nötig sind ebenso die konkreten Einlösungen politischer Reformversprechen von den Regierungen der Westbalkanländer, wie auch klare politische Haltungen dazu seitens der Mitgliedsstaaten. Jahrzehntelange Lippenbekenntnisse reichen den Gesellschaften der Westbalkan-Länder längst nicht mehr, Massenabwanderungen sind ein anhaltendes Problem.

In die Reihe „neue Dynamik“ gehört ebenso, dass Bosnien und Herzegowina im Dezember noch den Kandidatenstatus verliehen bekommen und Kosovo die lang erwartete Visa-Freiheit zugesagt werden soll, für spätestens Januar 2024.

"Erklärfilme" Bosnien und Herzegowina 2022

Eine dreiteilige Diskussionsreihe zur aktuellen Situation in Bosnien und Herzegowina, veranstaltet vom Stiftungsverbund der Heinrich-Böll-Stiftung 2022, vertieft Einordnungen und diskutiert notwendige Handlungsoptionen für die Region, v.a. mit Blick auf die Rolle der Internationalen Gemeinschaft.

Der Fluch von Dayton - Bosniens steiniger Weg zum Bürgerstaat - Heinrich-Böll-Stiftung Hamburg e. V.

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» Teil 1: Der Fluch von Dayton - Bosniens steiniger Weg zum Bürgerstaat

Der Fluch von Dayton - Bosniens steiniger Weg zum Bürgerstaat - Heinrich-Böll-Stiftung Hamburg e. V.

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» Teil 2: Die Balkanpolitik der EU - Appeasement-Politik statt demokratischer Reformen

Die Balkanpolitik der EU - Appeasement-Politik statt demokratischer Reformen - Heinrich-Böll-Stiftung Hamburg e. V.

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» Teil 3: Bosnien und Herzegowina - die zweifelhafte Rolle der Internationalen Gemeinschaft

Bosnien und Herzegowina - die zweifelhafte Rolle der Internationalen Gemeinschaft - Heinrich-Böll-Stiftung Hamburg e. V.

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Interventionen des Hohen Repräsentanten in Bosnien und Herzegowina

In Bosnien und Herzegowina selbst gab es ebenfalls eine neue Dynamik internationaler Interventionen in den letzten Monaten. Nachdem die von der US- und EU-Administration geführten Verhandlungen zur Verfassungs- und Wahlrechtsreform im Frühjahr endgültig scheiterten – zum Glück, siehe das Dossier zur Zeitenwende – trat der Hohe Repräsentant Christian Schmidt, CSU und ehemaliger Landwirtschaftsminister, in Aktion. Ausgestattet mit den sogenannten Bonn-Powers, umfassenden Machtbefugnissen, sicherte er der Wahlkommission das nötige Budget, um die Wahlen im Oktober abhalten zu können. Zuvor hatte es politische Blockaden der kroatisch-nationalistischen Partei HDZ, die den Finanzminister stellt, gegeben, aus Protest gegen die nicht in ihrem Sinne zustande gekommene Wahlreform. Ende Juli sickerten Pläne des OHR, des Office of the High Representative, an die Öffentlichkeit durch, die tiefgreifende Änderungen im Wahlrecht vorsahen – zugunsten ethno-territorialer Prinzipien, wohl diktiert vom Nachbarstaat Kroatien.

Die sogenannte „legitime Vertretung“ ist seit Langem erklärtes Ziel kroatischer Politiker – das Prinzip, das in Bosnien und Herzegowina nicht Wähler*innen, Bürger*innen einfach Politiker*innen wählen, sondern zumindest für die ethnisch quotierten Ämter, auch die Wähler*innen nach Ethnien aufgeteilt werden – eine weitere Diskriminierung und weiterer Schritt weg vom Prinzip „eine Person – eine Stimme“ weiter weg von der Umsetzung der bisher fünf Urteile des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofes, das seit Jahren eine Verfassungsänderung anmahnt. Nach lautem Aufschrei in den bosnischen Medien und einer großen Demonstration vor dem OHR wurden nur Gesetzesänderungen erlassen, die die Integrität der Wahlen besser absichern sollten. Wahlmanipulationen und -fälschungen sind seit Jahren ein weitverbreitetes Problem.

Änderungen des Wahlrechts am Wahlabend sorgen für Frustration

Am 2. Oktober fanden Wahlen in Bosnien und Herzegowina statt – nur eine Stunde nach Schließung der Wahllokale verkündete der Hohe Repräsentant Schmidt Änderungen der Verfassung und des Wahlrechtes.

Schon allein der Zeitpunkt ist höchst problematisch – im laufenden Wahlprozess. Zwar nach Abschluss der Wahlen, aber dennoch haben die Änderungen Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Parlamente, was weder Parteien, Kandidat*innen noch Wähler*innen vorher auch nur in irgendeiner Weise bekannt war und sie somit keine Möglichkeit hatten, entsprechend zu wählen.

Politikverdruss und Wahlabstinenz sind sowieso schon sehr hoch – mit dieser Aktion hat der OHR zusätzlich für weitere Frustrationen gesorgt. Vom „Schlag ins Gesicht der Wähler*innen“ war zu hören, vom Düpieren der Demokratie. Auf Initiative des Grünen Bundestagsabgeordneten Boris Mijatovic und der Grünen EU-Parlamentarierin Tineke Strik forderten sie, gemeinsam mit weiteren 25 Abgeordneten aus der EU, Frankreich, den Niederlanden und Deutschland, Schmidt solle die Wahländerungen umgehend zurücknehmen und bescheinigten mangelnden Respekt für die demokratischen Rechte der Bürger*innen Bosnien und Herzegowinas.

Fragwürdiges Timing und aufgeblähtes Haus der Völker

Kritik gab es nicht nur am Zeitpunkt, sondern vor allem auch am Inhalt der Entscheidung, die sich nur auf die Föderationsebene, also nur auf eine administrative Teileinheit Bosnien und Herzegowinas auswirkt. Das Haus der Völker, eine der beiden Parlamentskammern, wurde gestärkt, indem die Anzahl der Delegierten von 58 auf 80 erhöht wurde – jeder „Klub“ eines der drei sogenannten konstituierenden Völker, Bosniaken, Kroaten, Serben, verfügt nun über 23 statt bisher 17 Delegierte, die Zahl der „Anderen“ wurde von sieben auf elf hochgesetzt. Alle Gesetze müssen auch durch diese Kammer abgesegnet werden, das Haus der Völker hat weitreichende Befugnisse. Wie bisher auch stellt jeder der zehn Kantone mindestens eine Bosniakin, einen Kroaten, eine Serbin, sofern diese in die Kantonsparlamente gewählt wurden, und nun auch je einen „Anderen“. Die restlichen Delegierten kommen nach einem komplizierten Schlüssel und auf Grundlage des Zensus von 2013 aus den Kantonen, in denen anteilmäßig die jeweilige Volksgruppe am höchsten vertreten ist.

Ethnisches über föderales Prinzip

Während mit der alten Regelung das führende Prinzip ein föderales war – zehn von 17 Delegierten einer Volksgruppe kamen aus je einem Kanton – und sieben weitere nach dem ethnischen Prinzip aus den Kantonen mit der je relativ höchsten Anzahl an der jeweiligen Volksgruppe, so wurde diese Gewichtung mit der neuen Regelung umgedreht und das ethnische Prinzip ist das vorherrschende. Eine Erklärung, warum das Haus der Völker gestärkt wurde und warum ausgerechnet 23 Delegierte pro ethnischem Klub und elf statt sieben „Andere“ neu vorgesehen sind, liefert die Entscheidung nicht. Außer, dass in der Präambel explizit Bezug genommen wird auf das „Ljubic-Urteil“ des bosnischen Verfassungsgerichtes. Das hatte 2016 festgestellt, dass eine Regelung zur Besetzung des Hauses der Völker auf Föderationsebene verfassungswidrig sei und diese, nachdem das Parlament keine Gesetzesänderung verabschiedet hatte, gestrichen. Entgegen weitläufiger Auffassung von Verfassungsexperten, dass hiermit der Fall geregelt und kein Handlungsbedarf bestehe, schloss sich Schmidt der kroatischen Meinung an, die unermüdlich immer wieder die Umsetzung forderten.

Entgegenkommen zu kroatischen Forderungen

Die kroatischen Forderungen gingen – und gehen immer noch – darüber hinaus, wollen eine „legitime Vertretung“ – verkürzt: kroatische Repräsentanten sollen möglichst nur von kroatischen Wähler*innen gewählt werden, und möglichst eine eigene Entität. Mit seinen Gesetzesänderungen ist der Hohe Repräsentant zwar nicht so weit, aber in diese Richtung gegangen. Und bewusst nicht in die andere Richtung – es sind nicht nur die fünf Urteile aus Straßburg, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, die seit 2009 regelmäßig urteilen, dass Bürger*innen in Bosnien und Herzegowina auf verschiedenen Ebenen und verschiedene Weise diskriminiert werden und die Verfassung geändert werden muss – etwas, wofür sich der Hohe Repräsentant ausdrücklich nicht zuständig sieht –, auch das bosnische Verfassungsgericht hat in sog. Komšić-Urteil angemahnt, dass bei der Wahl der Föderations(vize)präsident*innen alle, die sich nicht als Bosniak*innen, Serb*innen, Kroat*innen deklarieren, diskriminiert sind. Das ist ein Grund, warum Komšić, das kroatische Präsidiumsmitglied, wieder Beschwerde beim Verfassungsgericht eingereicht hat, ebenso wie sein ehemaliger bosniakischer Kollege Džaferović. Das Verfassungsgericht hat am 2. Dezember entschieden, sich zu einem späteren Zeitpunkt damit zu befassen und die Regierungsbildung nach Schmidt-Modell vorerst zuzulassen. In Medienberichten war zuvor von großem Druck auf das Gericht zu lesen.

Ein weiterer Kritikpunkt an der Entscheidung ist die Festlegung auf den Zensus von 2013: für alle bisherigen Berechnungen von ethnischen Quoten ist der Zensus von 1991 die Grundlage. Dieser Zensus ist der letzte vor dem Krieg und bildet das multiethnische Bosnien und Herzegowina ab, vor dem Krieg, vor ethnischer Säuberung, Vertreibung, Genozid. Die weitere Verwendung des Zensus von 1991 als Grundlage für die Berechnung von ethnischen Quoten bestärkt das Prinzip eines multiethnischen Staates, wohingegen die Verwendung des Zensus von 2013 die Realität, geschaffen durch Krieg und Kriegsverbrechen, anerkennt und die Verschränkung von „Ethnien“ und Territorien stärkt. Eine Erklärung, warum der für das Haus der Völker der Zensus von 2013 gilt, für alle anderen Ämter jedoch weiterhin der Zensus von 1991, wurde nicht geliefert.

Deblockierung - doch nicht: Überraschung!

Zu seiner Verteidigung führte Schmidt meist an, es sei ihm um die „Deblockierung“ der Föderation gegangen. Nach den letzten Wahlen 2018 wurde keine Regierung gebildet, die 2014 gewählte Regierung blieb bis jetzt im „technischen Mandat“. Die Regierung wird vom Föderationspräsidenten und den beiden Vizepräsidentinnen ernannt, die (Vize)Präsident*innen wiederum von beiden Parlamentskammern gewählt. Vorschlagen konnten bisher je sechs von 17 Delegierte eines jeden Volks-Klubs eine(n) (Vize)Präsidenten, was nach den Wahlen 2018 einfach nicht passierte. Außerordentliche oder vorzeitige Wahlen sind im Gesetz nicht vorgesehen, eine Frist zur Regierungsbildung ebenso wenig und so mussten die Parteien keine Kompromisse eingehen und konnten einfach weitermachen wie bisher.

Das soll sich nun ändern, beschloss Schmidt, und setzte zeitliche Fristen fest, innerhalb derer Kandidat*innen für die (Vize)-Präsident*innen an das Abgeordnetenhaus zur Abstimmung vorgelegt werden sollen. Im ersten Runde müssen mindestens elf Delegierte eines Klubs, also knapp die Hälfte statt wie bisher ein gutes Drittel, eine Kandidatin vorschlagen – das begünstigt große Parteien, die über mehr Delegierte im Haus der Völker verfügen. Erst wenn keine Liste vorgeschlagen wird, wird die Zahl notwendiger Stimmen auf sieben und schlussendlich auf vier gesenkt. Was allerdings geschieht, wenn zwar eine Liste aus dem Haus der Völker vorgeschlagen und somit die Frist eingehalten, aber nicht im Abgeordnetenhaus angenommen wird, ist unklar, bzw. führt das nach Lesart vieler Analysten nicht zu einem Absenken der notwendigen Stimmen, sondern möglicherweise zu einem endlosen Hin- und Her zwischen den beiden Kammern. Genau dieser Fall ist jetzt eingetreten, von einem reibungslosen Deblockieren kann also keine Rede sein. Selbst wenn das funktioniert hätte: um Fristen einzuführen hätte es nicht auch einer Erhöhung der Delegiertenanzahl gebraucht und somit Stärkung des Hauses der Völker.

Vor allem der OHR, aber auch andere internationale Akteure, USA zum Beispiel, drängen auf eine rasche Regierungsbildung, betonen die Wichtigkeit der „Funktionalität“. Noch bevor die endgültige Besetzung des Hauses der Völker feststand, hat sich eine breite Koalition von acht sogenannten „pro-bosnischen“ Parteien gebildet, die bewusst – auf Druck von HDZ und internationaler Akteure – die SDA und DF außen vorgelassen haben. In etlichen Kantonen gab es gleich viele Stimmen für Delegierten-Kandidat*innen für das Haus der Völker, so dass Abstimmungen in einer Patt-Situation endeten – und das Losverfahren zum Einsatz kam. Aus den gelben Plastikverpackungen von Kinderüberraschungseiern wurden die „Gewinner*innen“ von Posten gezogen. In einem solchen Überraschungsei war der 12. Delegierte der SDA versteckt, gemeinsam mit der DF haben sie nun 13 Delegierte im bosniakischen Klub und somit die alleinige Möglichkeit, eine*n Kandidat*in für die Föderations(vize)präsident*in vorzuschlagen – die SDA fordert nun eine Regierungsbeteiligung, was von den anderen abgelehnt wird.

Bürger*innen fordern grundlegende Änderungen

Ein Wahlsystem, in dem Kinderüberraschungseier entscheidenden Einfluss auf die Möglichkeit zur Regierungsbildung haben, sollte grundlegend überarbeitet werden, Bosnier*innen sind für ihren schwarzen Humor bekannt und so machte schnell der Vorschlag die Runde, man könne sich in Zukunft Wahlen ganz sparen und gleich auf Überraschungseier setzen.

Relevante Reformvorschläge wurden bereits vor Monaten zum Beispiel von einer Bürgerversammlung erarbeitet. 57 im Losverfahren (per automatisiertem Zufallsprinzip, nicht per Kinderüberraschung) ausgewählte Bürger*jnnen erarbeiteten an zwei Wochenenden umfangreiche Reformvorschläge, darunter die komplette Abschaffung der Häuser der Völker auf Staats- und Föderationsebene. Diese Kammer sei immer wieder der Grund für Blockaden; genau definierte Kollektivrechte (vitale nationale Interessen) sollten durch bestimmte Mechanismen im Abgeordnetenhaus geschützt werden. Obwohl dieser Bürgerrat mit großen Worten – „wichtig, die Stimme der Bürger*innen zu hören“ – und mit noch mehr Geld der EU-Delegation in Sarajevo ins Leben gerufen wurde, an der Stimme und den Empfehlungen herrscht überhaupt kein Interesse. Fast ein Jahr später ist keine englische Version der Ergebnisse veröffentlicht, die Empfehlungen sind nach zwei halbherzigen Vorstellungen in der Schublade verschwunden und sollen dortbleiben. Dabei wäre es vielleicht wirklich an der Zeit, über eine Abschaffung der Häuser der Völker nachzudenken.

Appeasement nicht mit „Neuer Dynamik“ verwechseln

So lange eine „neue Dynamik“ nicht viel mehr als Appeasement Politik hervorbringt oder die Verfolgung eigener Interessen, vage Beteuerungen und Versuche, nicht-funktionierende Systeme mit wenigen Änderungen zum Funktionieren zu bringen, so lange wird sich nichts Grundlegendes ändern. Dodik, jetzt wieder als Präsident der Republika Srpska, wird weiter Sezessionspläne schmieden und umsetzen, Cović, die HDZ in BiH und Kroatien, werden weiter legitime Vertretung, in welcher Wortwahl auch immer, fordern, Russland kann seinen Einfluss weiter nutzen, ebenso wie Ungarn, das Dodik den Rücken stärkt.

Funktionalität ist kein Wert an sich

So vieles kann funktionieren und dennoch nicht unterstützenswert sein. Autokratische Systeme etwa, Banküberfälle, korrupte Sportevents. Bürger*innen lassen sich nicht politisch und gesellschaftlich langfristig mobilisieren, wenn sie in einem EU-finanzierten Projekt Reformvorschläge erarbeiten dürfen, die dann maximal nicht beachtet werden. Aufrufe seitens internationaler Akteure, einschließlich derselben EU-Delegation, Bürger*innen hätten es durch demokratische Wahlen in der Hand, dieses Land zu verändern, klingen angesichts dessen hohl, noch dazu, wenn am selben Abend die Spielregeln geändert werden. Und allen klar ist, dass es wieder einmal massiven Wahlbetrug gegeben hat, man damit durchkommt, und noch nicht einmal nach Einsatz von Kinderüberraschungseiern sicher ist, wie es weitergeht.

Es ist höchste Zeit, Prinzipien und Werte zu benennen und danach zu handeln, anstatt denjenigen etwas zu geben, die am lautesten schreien und am gefährlichsten zündeln.