Fehlgeleitete Balkanpolitik. Gefährliche Beschwichtigung

Analyse

Westliche Akteure sind seit Jahren bemüht, die zerstörerischen Ideologien völkisch-nationalistischer Akteure zu befrieden: Mit zweifelhaften Methoden des Appeasements und undemokratischen Interventionen wurden dabei zuletzt vor allem jene Kräfte gestärkt, die den Frieden neuerlich bedrohen. Der Boden für neue Gewaltexzesse wird bereitet. Durch die Stärkung der Brandstifter konnte Russland seinen Einfluss weiter ausbauen - für den Kreml ist es die zweite Front zur Destabilisierung Europas.

                                                                                                » PDF herunterladen

I. Konfliktfeld: Kosovo - Serbien

Aleksandar Vucic hat eine schillernde Vergangenheit. Unter dem Regime des ehemaligen serbischen Machthabers Slobodan Milosevic spielte der heutige Präsident Serbiens eine tragende Rolle: Von 1998 bis 2000 war Vucic Informations-Minister, während des Bosnienkrieges, in dem serbische Einheiten unzählige Kriegsverbrechen und den Genozid an 8300 Muslimen begingen, heizte er den Islamhass gezielt an: Für einen getöteten Serben werden wir 100 Muslime töten, höhnte er wenige Tage nach dem Gewaltexzess in Srebrenica.

Seither machte Vucic kaum Anstalten, sich von den begangenen Gräueltaten zu distanzieren: Noch 2018 würdigte Vucic Milosevic, der vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag (ICTY) wegen Kriegsverbrechen und Völkermord angeklagt war, aber noch während des Prozesses verstarb, als „großen serbischen Führer“. Man habe die Wünsche anderer Nationen vernachlässigt, räumte Vucic ein. Dennoch hätten die Serben den höchsten Preis zahlen müssen - man sei nicht größer geworden.

Die Idee, ein Groß-Serbien auszugestalten, hatte Slobodan Milosevic zum Grundstein seiner Politik gemacht. 1991 traf er sich mit dem damaligen kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman in Karadjordjevo: Die Machtpolitiker einigten sich auf die Aufteilung Bosnien und Herzegowinas. Ziel war es, ein Groß-Kroatien und ein Groß-Serbien zu schaffen. Schwerste Kriegsverbrechen auf bosnischem Boden waren die Folge. Heute, knapp 28 Jahre nach Ende des Bosnienkrieges und 24 Jahre nach Ende des Kosovokrieges spielt das Ziel territorialer Ausdehnung wieder eine zentrale Rolle in der serbischen Politik. „Srpski Svet“ (serbische Welt), so lautet das Konzept zur Vereinigung aller Serben in einem Staat – de facto ist es eine Neuauflage des Milosevic-Imperialismus.

Die aktuellen Grenzen sieht der Belgrader Machthaber als vorübergehendes Kapitel an. Virtuos spielt er vor diesem Hintergrund mit westlichen Unterhändlern seit Jahren Katz und Maus. Zentrales Instrumentarium sind dabei die serbischen Bevölkerungsgruppen im Kosovo und in Bosnien und Herzegowina. Immer wieder heizt die Belgrader Führung in ihrem Namen Auseinandersetzungen an. Eine Anerkennung des Kosovo, das 2008 seine Unabhängigkeit erklärt hatte, lehnte Vucic bislang kategorisch ab.

Taktiken der 90er Jahre: Eskalation, Deeskalation

Zum Jahresende 2022 errichteten im serbisch dominierten Nord-Kosovo serbische Nationalisten illegale Barrikaden. Journalisten wurden angegriffen, auch eine Einheit der Rechtstaatsmission EULEX geriet unter Beschuss. Mit Sturmhauben ausgestattete Kraftprotze begleiteten das Krisenszenario. Belgrad drohte mit Einmarsch serbischer Einheiten, die Armee wurde in Alarmbereitschaft versetzt. Eine gefährliche Radikalisierung brach sich Bahn, die den Balkan zurück in die 90er Jahre katapultiert. Das Muster ist bekannt: Provozieren, das Spielen der ethnischen Karte (die serbische Minderheit im Kosovo sei in einer „schrecklichen Lage“, so Serbiens Premierministerin Ana Brnabic), drohen - um dann, bis zur nächsten Provokation, graduell zu deeskalieren.

Als problematisch erscheint, dass westliche Akteure das Belgrader Eskalationsmuster seit Jahren bedienen. Immer mehr setzt sich das Narrativ durch, die Internationale Gemeinschaft müsse Belgrad etwas anbieten. Auf Grundlage des 2013 geschlossenen Brüsseler Agreements, versuchten USA und EU zuletzt, eine Einigung für die Schaffung einer Assoziation serbischer Gemeinden im Kosovo auf den zu Weg bringen, erklärtes Ziel ist die „Normalisierung“ der Beziehungen beider Länder. 

Kritiker im Kosovo bezweifeln hingegen die Sinnhaftigkeit solcher institutionalisierten serbischen Einflusszonen und verweisen auf die serbisch dominierte „Republika Srpska“ in Bosnien und Herzegowina, die unter dem bosnischen „Serbenführer“ Milorad Dodik seit Jahren auf einen immer radikaleren Eskalationskurs mit dem bosnischen Gesamtstaat setzt, um sich, irgendwann, abzuspalten. Ähnliche Konfliktzonen will man im Kosovo vermeiden.

Vucic und Thaci: Offen für Grenzänderungen

Statt die Unverrückbarkeit der Grenzen in Europa als nicht verhandelbares Prinzip zu verteidigen, drängte vor allem Washington zuletzt auf ethno-zentrierte Lösungen. Für Schlagzeilen sorgte dabei vor allem die Idee eines Gebietsaustausches („landswap“) mit dem Ziel, die Schaffung ethnisch-reiner Territorialgebiete voranzutreiben. Erdacht wurde die Idee von Serbiens Präsident Vucic und dem damaligen Kosovo-Präsidenten Hashim Thaci, der sich aktuell wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen während des Kosovo-Krieges in Den Haag verantworten muss.

Von US-Vertretern unterstützt, wurde die landswap-Idee schließlich unter der Außenbeauftragten Federica Mogherini auch von EU-Seite unterstützt. Nicht zuletzt, weil Deutschland unter Kanzlerin Angela Merkel ein Veto einlegte und Thaci mit Blick auf die Anklage in Den Haag zurücktrat, wurde der landswap-Ansatz am Ende verworfen. Dennoch sei es evident, konstatiert die Belgrader Analystin Izabela Kisic vom Helsinki-Komitee für Menschenrechte, dass Vucic nach wie vor die „Teilung des Kosovo“ anstrebe. Um Zeit zu gewinnen, setze Belgrad gezielt auf Provokationen, man warte auf eine „günstigere geopolitische Konstellation“ - etwa eine Rückkehr Donald Trumps -, um die Ansprüche im Kosovo in Zukunft erfolgreich geltend machen zu können, erläutert Kisic.

USA: Ethno-zentrierte Deals und ein Regierungssturz

Mit dem Ziel, die existierenden Konfliktlinien zu bereinigen, setzt Washington mitunter auf hochproblematische Interventionen: Vor diesem Hintergrund ist der Sturz der kosovarischen Regierung im März 2020 zu verstehen, eingefädelt durch den unter Ex-Präsident Trump eingesetzten Balkanbeauftragten Richard Grenell. Beobachter gehen davon aus, dass Regierungschef Albin Kurti dem umstrittenen US-Unterhändler im Weg war, um den Gebietsaustausch zwischen Kosovo und Serbien durchboxen zu können – Kurti hatte sich klar gegen einen Gebietstausch positioniert.

Bei den darauf folgenden Parlamentswahlen im Februar 2021 zeigten die Kosovaren jedoch deutlich, was sie vom neukolonial anmutenden Stil der USA hielten: Kurtis Partei Vetëvendosje (Selbstbestimmung) konnte gegenüber der Wahl 2019 maßgeblich zulegen – eine Ohrfeige für Washington und eine Absage an die von den USA betriebenen Grenzänderungspläne. 

Kurti widersetzt sich seither mit seiner 2. Regierung dem Druck, der unter der Biden-Administration weiter verschärft wurde. Kosovarische Regierungsvertreter verweisen dabei auf ein Urteil des Kosovarischen Verfassungsgerichts, das die Möglichkeit eines serbischen Gemeindeverbunds negiert.  Präsidentin Vjosa Osmani stellt kategorisch fest: „Wir werden die Schaffung von Gemeindeverbänden mit mono-ethnischen Strukturen nicht erlauben.“ Dysfunktionalitäten wie in Bosnien, so die Juristin, wolle man vermeiden. Tatsächlich wurde im Rahmen des seitens der Internationalen Gemeinschaft verhandelten Friedensabkommens für Bosnien und Herzegowina 1995 mit der Schaffung des serbisch dominierten Landesteils jene destabilisierenden Effekte geschaffen, die bis heute nachwirken. Ein Gemeindeverbund, so die Befürchtung, könnte den Grundstein für eine zweite „Republika Srpska“ legen, dieses Mal im Kosovo.

Brüssel – Anlehnung an „falsche US-Konzepte“

Wie schon beim „landswap“ beweist die unkritische Anlehnung an die Konzepte aus Washington, dass die EU-Kommission ohne eigene Strategie agiert. Mehr und mehr versagt Brüssel darin, in der Region als Korrektiv zu Nationalismus und illiberalen Tendenzen aufzutreten. Dies ist eine Folge der Probleme im Innern und den Partikularinteressen der Mitgliedsländer: Weder Spanien noch die Slowakei haben die Staatlichkeit Kosovos anerkannt - dass vor diesem Hintergrund ausgerechnet der Spanier Joseph Borell und der Slowake Miroslav Lajcak den Dialog zwischen Pristina und Belgrad moderieren, kratzt an der Glaubwürdigkeit. Es sei eine Mission impossible, Serbien zu überzeugen, Kosovos Unabhängigkeit anzuerkennen, wenn die Länder der Unterhändler zur Gruppe der Nicht-Anerkenner gehörten, erklärt der politische Analyst Rahman Pacarizi.

Mit ihrer jahrelangen Interessenlosigkeit und Hinhaltetaktik gegenüber den Balkanstaaten hat die EU ohnehin signifikant an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Deren Autorität und transformatorische Kraft sei in den Ländern des Westbalkan zu großen Teilen aufgezehrt, konstatiert der Balkanexperte Tobias Flessenkämper im Jahrbuch der Europäischen Integration 2022. Dass die EU-Mitgliedschaft für die politischen Führungen als Anreiz zu Demokratisierung und Disziplinierung, nicht mehr wirkt, bewies Serbiens Präsident zuletzt mit wachsender Brachialität. Vucic hat gelernt: Es lohnt sich, zu eskalieren - man bekommt im Gegenzug immer etwas angeboten.

Bestes Beispiel: Nach den jüngsten Spannungen im Norden des Kosovo reiste der US-Sondergesandte Derek Chollet nach Belgrad und wartete mit bemerkenswert freundlichen Äußerungen zum gemeinsamen Verständnis  „demokratischer Prinzipien“ auf. Um Vucic gnädig zu stimmen, will Washington Belgrad in der Kosovo-Frage entgegen kommen – auch gegen die Kritik amerikanischer Außenpolitikexperten. Serbien soll unter allen Umständen die Gemeindeverbände erhalten, dafür Kosovo - zumindest teilweise - anerkennen. Mit diesem Deal, so das Kalkül des State-Departments, soll Serbien aus der bestehenden Partnerschaft mit Russland herausgelöst werden.

Vor diesem Hintergrund übt der Politologe und Balkanexperte Daniel Serwer von der Johns Hopkins School für Internationale Studien starke Kritik an der Beschwichtigungspolitik. Die US-Balkanpolitik sei derzeit „grundlegend falsch“. Serbien habe sich für Autoritarismus im Innern und einem Zusammenspiel mit Russland und China entschieden. Das falsche Appeasement werde dauerhaft negative Nachteile für die Menschen in der Region mit sich bringen, warnt Serwer.

Deutschland: Appeasement made by Merkel

Auch Deutschland versagte in den letzten Jahren darin, den nationalistischen Brandstiftern in der Region etwas entgegen zu setzen. Statt einer kohärenten Strategie für den Balkan, setzte Kanzlerin Merkel während ihrer Amtszeit einseitig auf Belgrads starken Mann als Stabilitätsanker. Merkel stattete Vucic 16 Besuche in neun Jahren ab – der Troubleshooter wurde mit Aufmerksamkeit überzogen - während Bosnien und Herzegowina, das Land, das am meisten unter den Groß-Politiken Serbiens und Kroatiens gelitten hatte, von der Kanzlerin ein einziges Mal besucht wurde.

Bei ihrem Abschiedsbesuch lobte Merkel, Vucic habe stets „seine Versprechen erfüllt“ – eine gefährliche Verharmlosung des immer autoritärer und imperialer agierenden Serben. Tatsächlich verweigert Vucic seit Jahren ein klares Bekenntnis zu europäischer Politik. Seit Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine setzt er gänzlich auf das serbisch-russische Sonderverhältnis, Sanktionen gegen Russland lehnt Belgrad ab. Es ist kein Zufall, dass zum Jahreswechsel 2023 gemeldet wurde, die berüchtigten russischen Wagner-Paramilitärs hätten in Belgrad ein Büro eröffnet.

Angesichts der wachsenden regionalen Spannungen kann das deutsche Konzept schmeichelnder „Stabilokratie“-Diplomatie als gescheitert angesehen werden: Allzu lange setzte Berlin auf innenpolitische Stabilität und außenpolitische Berechenbarkeit - im Gegenzug sah man den Autokraten rechtsstaatliche Mängel nach. Nun eskaliert mit dem Ukraine-Krieg auch die Lage auf dem Balkan: Mit dem jüngsten Krisenszenario zum Jahreswechsel im Norden des Kosovo demonstrierte Vucic, dass die Region nur einen Steinwurf von neuen kriegerischen Auseinandersetzungen entfernt ist.

II. Konfliktfeld: Bosnien-Herzegowina – Serbien - Kroatien

Doch nicht nur im Kosovo wird unter Bezugnahme auf die serbische Minderheit gezündelt, auch in Bosnien-Herzegowina zeigt die Belgrader Führung, dass serbische Großmacht-Ansprüche die Friedensordnung bedrohen. Die „Republika Srpska“ (RS), der serbisch dominierte Landesteil, ist ein Produkt der ethnischen Säuberungspolitik unter Slobodan Milosevic. Der amtierende Präsident der RS, Milorad Dodik, setzt mit Unterstützung Belgrads und Russlands auf die Loslösung des Landesteils aus dem bosnischen Staatsverband an. Gezielt unterminiert die Führung der RS die Autorität des Gesamtstaates; der Landesteil gründete bereits eigene Institutionen – etwa eine Medizinagentur, um Kompetenzen von der Staatsebene auf die Entitätsebene zu verlagern.

Am 9. Januar lässt Dodik alljährlich den vom bosnischen Verfassungsgericht als illegitim eingestuften „Feiertag“ der Republika Srpska feiern – der Tag markiert ihre Gründung im Jahr 1992 und de facto den Auftakt zu den Verbrechen an Nicht-Serben, die im Sommer 1995 im Genozid von Srebrenica kulminierten. Im Rahmen der diesjährigen Feierlichkeiten demonstrierte Milorad Dodik seine Nähe zu Moskau und verlieh dem russischen Präsidenten Putin den höchsten Orden der Republika Srpska, der in der Vergangenheit bereits an Kriegsverbrecher wie Radovan Karadzic und Ratko Mladic vergeben worden war.

Erstmalig liefen in Ost-Sarajevo paramilitärische Einheiten auf - mit dabei auch die russischen Wölfe, ein Motorclub mit Nähe zum Kreml. Für die Bewohner in Sarajevo, die mehr als drei Jahre von 1992-1995 von serbischen Einheiten und Paramilitärs beschossen worden waren, rückte damit die großserbische Machtdemonstration gefährlich nahe. Die bosnische Filmregisseurin Jasmila Zbanic kritisierte die Unterstützung der Internationalen Gemeinschaft für Dodik und forderte die EU und den Hohen Repräsentanten auf, die „Orgien des Faschismus“ zu stoppen. Der ehemalige kroatische Diplomat und Russlandkenner, Bozo Kovacevic, sieht in der paramilitärischen Drohgebärde serbischer Nationalisten mit pro-russischen Untertönen ebenfalls ein Versagen des Westens – es fehle ein verantwortungsvolles, koordiniertes Engagement.

Kroatien als zweite Säule: Revival des Tudjman-Kurses

Die komplexe Problemlage in Bosnien ist jedoch nur zu verstehen, wenn man auch die andere relevante Großmacht-Politik beleuchtet: Die Kroatiens. Und auch in diesem Kontext versagen westliche Akteure darin, die notwendige Korrektive zu setzen. Dabei betreibt das EU-Mitgliedsland in seiner Außenpolitik de facto einen Re-Tudjmanisierungs-Kurs: Systematisch nutzt Zagreb die kroatische Minderheit in Bosnien und Herzegowina (rund 15 Prozent), um den eigenen Einfluss im Land weiter auszubauen. Unter Franjo Tudjman wurden auf bosnischem Boden im Namen des 1991 ausgerufenen kroatischen Parastaates „Herzeg-Bosna“ („joint criminal enterprise“) schwerste Verbrechen verübt, die vom Internationalen Kriegsverbrecher-Tribunal für das ehemalige Jugoslawien mit insgesamt 111 Jahren Haft abgeurteilt wurden. Dessen ungeachtet meldet Zagreb seine Ansprüche in Bosnien immer lauter und radikaler an.

Die HDZ BiH, Schwesterpartei der regierenden HDZ in Zagreb, fordert seit Jahren eine Stärkung der kroatischen Einflusszone in Bosnien: Ziel ist es, eine eigene, dritte Entität zu schaffen. Obwohl Kritiker darin eine gefährliche Vertiefung der ethnischen Problematik sehen, versuchten zuletzt US-Unterhändler Matthew Palmer und Gabriel Escobar, Sondergesandter für den Westbalkan, sowie die EU-Vertreterin Angelina Eichhorst, den Forderungen der Kroaten nachzugeben und bosnische Politiker zu einer Reform des Wahlrechts zu bewegen. Damit sollte die vermeintliche Diskriminierung der Kroaten (geklagt hatte der Politiker Bozo Ljubic) gelöst werden, während die grundlegende Diskriminierung der Juden, Roma und Bürgerinnen, denen laut Dayton-Verfassung nicht das volle Wahlrecht zugestanden wird, unangetastet bleiben sollte.

EU-Unterhändler: Intransparente Deals und „Apartheid“-Politiken

Trotz der Kritik im In- und Ausland [1] zeigten sich die USA und EU fest entschlossen, die Forderungen der völkisch-orientierten HDZ BIH (und Zagrebs) zu implementieren: Hinter verschlossenen Türen verhandelten Unterhändler Anfang 2022 mit lokalen Vertretern in einem Hotel im bosnischen Badeort Neum – neuerlich bildete sich hier ein eklatantes Versagen der Internationalen Gemeinschaft ab. Statt Transparenz und eine Stärkung der bosnischen Institutionen zu befördern, stellten die westlichen Vertreter unter Beweis, dass sie eher auf dubiose Hinterzimmer-Deals zugunsten nationalistischer Kräfte setzen als auf Demokratisierungsprozesse und die Schaffung pluralistischer Beteiligungsmöglichkeiten.

Die Bürgerrechtlerin Azra Zornic, die eine Einteilung in ethnisierte Kategorien ablehnt und vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) klagte (als Bürgerin darf sie nicht für das Präsidialamt kandidieren), wirft den USA und der EU vor, eine „Apartheid-Politik“ im Sinne Kroatiens zu befördern. Die EU, kritisiert die Bürgerrechtlerin, versage darin, „in Bosnien ihre eigenen Werte zu verteidigen“.

Nach den Vorstellungen Kroatiens soll – entgegen der Straßburger Richtersprüche in fünf Fällen – die undemokratische Dominanz der drei konstituierenden Völker (Bosniaken, Kroaten und Serben) im bosnischen Wahlsystem zementiert werden. Kroatiens Außenminister Grlic Radman machte im Sommer 2021 in einem Interview mit lokalen Medien deutlich, dass sein Land eine bürgerliche Neuordnung Bosniens nicht zulassen werde. Damit agitiert ein EU-Mitgliedsland offen gegen grundlegende Prinzipien der Demokratie in einem Nachbarland – westliche Unterhändler assistieren.

Kroatische Agenden: Schulterschluss mit dem Kreml

Auf EU-Ebene ist die aggressive Einmischungspolitik Zagrebs bislang kaum Gegenstand kritischer Auseinandersetzungen. Im Gegenteil: Das kroatische Lobbying führte dazu, dass maßgebliche EU-Offizielle die kroatischen Einflussnahmen in Bosnien zuletzt aktiv unterstützten. Dabei verkennen sowohl die USA als auch die EU, dass die kroatische Regierung – ebenso wie Belgrad - bei der Erreichung ihrer alten/neuen Ziele ebenfalls auf den Schulterschluss mit Russland setzt.

Nach einem Treffen zwischen Kroatiens Außenminister Radman mit seinem russischen Amtskollegen im Januar 2022 unterstrich Sergej Lawrow umgehend seine Unterstützung für die kroatische Position. Moskau erkenne die „gegen Kroaten gerichtete Diskriminierung“ in Bosnien an. Im Kreml setzt man auf altbewährte Muster der Destabilisierung: In diesem Falle wird die vermeintliche Notlage der kroatischen Bevölkerungsgruppe in Bosnien in den Mittelpunkt gerückt. Die kroatisch-russische Unterstützer-Achse reicht freilich noch weiter: Kroatiens Präsident Zoran Milanovic sprach in der Vergangenheit offen von einer Partnerschaft Kroatiens mit dem Putin-Vertrauten Dodik, um die vermeintliche „kroatische Frage“ in Bosnien zu lösen. Angesichts der russischen Parteinahme für die völkischen Ansätze erscheint die Förderung der Einmischungs-Agenda Zagrebs durch EU und USA umso fragwürdiger.

Wie wirkungsmächtig derart ethnisierte Planspiele für den Balkan bereits sind, belegte auch das im Frühjahr 2021 kursierende Non-Paper des damaligen slowenischen Rechtsaußen-Premiers Janez Jansa: Er propagierte mit Unterstützung des ungarischen Präsidenten Viktor Orban eine Neuaufteilung des Balkan entlang ethnischer Linien – eine Fortführung der zerstörerischen Politiken von Milosevic und Tudjman und ihren Vollstreckern, dem bosnisch-serbischen Kriegsverbrecher Radovan Karadzic und dem Begründer des kriminellen Kroaten-Staates „Herzeg-Bosna“, Mate Boban. Sowohl Jansa als auch Orban unterhalten beste Kontakte nach Moskau. Ein neuer Bericht legt zudem nahe, dass EU-Erweiterungskommissar Oliver Varhelyi die Abspaltungspläne der bosnischen Serben unterstützt - gefährliche Szenarien finden inzwischen auch in der EU ihre Unterstützer.

HR Christian Schmidt: Ermöglicher ethno-zentrischer Scheinlösungen

Für Bosnien und Herzegowina ist zudem ein weiterer Einflussfaktor relevant: Der von den Vereinten Nationen eingesetzte Hohe Repräsentant. Mit dem ehemaligen deutschen Landwirtschaftsminister und CSU-Politiker Christian Schmidt, der das Amt seit Sommer 2021 innehat, ist nunmehr ein neuer Akteur im Spiel, mit dem nicht nur der kroatische Nationalismus einen willfährigen Implementierer gefunden hat, sondern auch die auf Ethno-Politik setzende US-Administration.

Schmidt gilt weder als Balkankenner noch ist er aufgrund seiner evidenten Nähe zur politischen Führung in Kroatien als neutraler Akteur anzusehen – im komplexen multiethnischen Grundgerüst Bosniens wirkt er - anders als sein Vorgänger, der österreichische Diplomat Valentin Inzko – wie ein Fremdkörper mit kolonialistischen Anwandlungen. Für Bosnien und Herzegowina brachte Schmidts Amtsübernahme – wenige Wochen vor dem Regierungswechsel in B im Herbst 2021 – gefährliche Folgewirkungen mit sich: Merkel stellte auf diese Weise sicher, dass sich die von ihr betriebene Samthandschuh-Politik gegenüber den Nationalisten in der Region weiter Raum greifen konnte.

Und ähnlich wie im Kosovo ist aktuell die Biden-Administration auch in Bosnien bemüht, ethno-zentrierte Lösungen anzuschieben. Washington sei der „Architekt“ der in diesem Zusammenhang von Schmidt vollzogenen weiteren Ethnisierung („Gerrymandering“) des bosnischen Wahlsystems, urteilt der Politologe Jasmin Mujanovic. Am Wahlabend am 2. Oktober 2022 griff der Hohe Repräsentant unter Nutzung der Sonderbefugnisse, der sogenannten Bonnpower, aktiv in das bosnische Wahlsystem ein und marginalisierte damit den Willen der Wählerinnen und Wähler – ein in demokratischen Kontexten wohl einmaliger Akt.

Problematisch: Aufgabe der „Äquidistanz“

Schmidt änderte am Wahlabend retroaktiv sowohl das bosnische Wahlrecht als auch die Verfassung des kroatisch-bosnischen Landesteils – um eine vermeintliche „Funktionalität“ - in diesem Falle der kroatisch-bosniakischen Föderation - zu erreichen. Tatsächlich wurde mit dem Eingriff insbesondere eine Stärkung der radikal-kroatischen HDZ BiH erreicht, deren Vorsitzender, Dragan Covic, in der Vergangenheit durch eine Nähe zu Kriegsverbrechern auffiel. Ausgerechnet jene Partei, deren Mitglieder die kroatischen Gräueltaten im Bosnienkrieg bis heute glorifizieren, ging damit als Gewinner aus der Wahlrechtsmanipulation hervor.

Problematisch sei die Intervention vor allem deswegen, weil die für das Amt des Hohen Repräsentanten erforderliche professionelle „Äquidistanz“ aufgegeben werde, argumentiert der an der Universität Trento lehrende Verfassungsrechtler und Bosnienexperte, Prof. Jens Woelk. Während Schmidt mit seiner Intervention der HDZ BiH zu einer gesicherten Machtposition verhalf, ließ er die bereits erwähnte EU-Rechtsprechung zu der Diskriminierung von Juden, Roma und Bürger*Innen unbeachtet.

Undemokratische Manöver zugunsten völkisch-nationalistischer Kräfte

Das Vorgehen gleiche einem „illiberalen Putschversuch“, urteilt Politikwissenschaftler Mujanovic. Massive Kritik kommt zudem aus dem EU-Parlament: Abgeordnete aus Frankreich, den Niederlanden und Deutschland verurteilen die von Schmidt betriebenen Wahlrechtsänderungen als „undemokratisch“. Der in Wien und Belgrad forschende Politologe Daniel Bochsler nennt die Intervention, zumal rückwirkend, „inakzeptabel“. Dagegen kam von den USA und Großbritannien ausdrückliche Unterstützung. Die Bundesregierung – bemerkenswert - schwieg.

Auch in der „Republika Srpska“ legte Schmidt, wenn auch indirekt, Hand an die Ergebnisse der dortigen Wahl zum Entitäts-Präsidenten: Trotz massiven Walbetrugs, den die Gegenkandidatin von Milorad Dodik, Jelena Trivic (PDP) dokumentierte, gab es nach Informationen von Beobachtern keine finalisierte Nachzählung [2], keinen Abschlussbericht. Stattdessen erklärte der Hohe Repräsentant kategorisch: Die Verlierer müssten die Wahl anerkennen. Die Internationale Gemeinschaft habe die Stimmenmanipulationen de facto legitimiert, kritisiert die Politologin Tanja Topic. „Hier wurde Wahlbetrug gezielt festgeschrieben.“ Damit kapituliere der Westen ausgerechnet vor jenem Politiker – Dodik -, der von Moskau in seinem Sezessionsbestreben aufs Engste unterstützt werde.

In diesem Zusammenhang steht auch die Bundesregierung in der Kritik, mit unbedachter Symbolpolitik diskreditierte Politiker aufzuwerten. Von einer grünen Bosnienpolitik sei bislang kaum etwas erkennbar, konstatiert der Präsident des Zentrums für Umwelt, Tihomir Dakic. Der neue Balkanbeauftragte der Bundesregierung, Manuel Sarrazin, habe sich ausgerechnet zu dem Zeitpunkt mit Milorad Dodik getroffen, als dieser in der Diskussion um den Wahlbetrug nicht nur der Zentralen Wahlkommission drohte, sondern neuerlich die Abspaltung des serbisch dominierten Landesteils in Aussicht stellte.

Westliches Appeasement: Kollaboration mit völkischen Clanführern

Zusammenfassend muss konstatiert werden, dass die vom Hohen Repräsentanten Christian Schmidt realisierten Manöver verheerende Nachwehen haben:  Mit den wahlrechtsrelevanten Interventionen, die insbesondere die Sezessionisten der SNSD um Milorad Dodik und die Segregationspolitiken der HDZ BiH stärkten (sie bilden eine Achse der Blockadepolitik und gezielten innenpolitischen Zersetzung), erreichte die westliche Beschwichtigungspolitik gegenüber gefährlichen Extremisten und kriminellen Kartell-Führern einen Höhepunkt. Der CSU-Politiker Schmidt hat damit dem Amt des Hohen Repräsentanten nachhaltigen Schaden zugefügt – in einer Zeit, in der angesichts der Angriffe auf Bosniens Staatlichkeit die Institution, die von den Vereinten Nationen mit Bedacht eingesetzt wurde, um die Einhaltung des Daytoner Friedensabkommens und damit den fragilen Frieden an sich langfristig abzusichern, wichtiger denn je erscheint.

Schmidts Handeln und die Position der Biden-Administration, die die Wahlrechtsmanipulation stützte, stehen dabei im klaren Gegensatz zu den Schlussfolgerungen der Bosnien-Resolution des deutschen Bundestags vom Juni 2022: „Insbesondere das politische Agieren völkisch-nationalistischer Politiker wie Milorad Dodik, gegenwärtig Mitglied des Staatspräsidiums, und Dragan Covic, Vorsitzender der Partei HDZ BiH, ist darauf angelegt, Bosnien und Herzegowina als Staat und Heimat einer vielfältigen Bevölkerung zu zerstören.“ Diese Politik sei eine Gefahr für den Frieden in Südosteuropa, sie sei inakzeptabel und erfordere eine „entschiedene, harte Gegenwehr“ der Europäischen Union, ihrer Mitgliedsstaaten sowie der internationalen Gemeinschaft, so die Forderung der deutschen Parlamentarier.

Deutschlands Duldung ethnonationaler „Lösungen“: Menschenrechtler fordern Neuausrichtung

Angesichts des illiberalen Charakters der Einflussnahmen ist es umso erstaunlicher, dass sich die Bundesregierung nicht öffentlich von Schmidt distanzierte. Auch als anschließend Druck auf das bosnische Verfassungsgericht ausgeübt wurde, kamen weder aus Berlin noch aus Brüssel Korrekturen. Der kroatische Vertreter im Staatspräsidium, Zeljko Komsic, hatte gegen die Intervention des Hohen Repräsentanten geklagt - Washington wollte jedoch um jeden Preis die Regierungsbildung mit der frisch gestärkten HDZ BiH halten und versuchte die Entscheidung der Höchstrichter zu verhindern. Fest steht: Mit derartigen Einmischungen zugunsten kurzfristiger „Stabilisierungen“ trägt die Internationale Gemeinschaft ihrerseits auf gefährliche Art und Weise zu einer Erosion der Institutionen und demokratischen Prozesse in Bosnien bei.

Vor diesem Hintergrund zeigen sich bosnische Bürger*innen insbesondere von der Haltung Deutschlands enttäuscht. Viele hatten sich einen Politikwandel erhofft - weg von der Merkelschen Appeasementpolitik hin zu einer Menschenrechtspolitik, die dem völkischen Nationalismus der HDZ BiH und SNSD Einhalt gebieten würde. Die Mostarer Publizistin Stefica Galic, immer wieder Ziel nationalistischer Angriffe, erklärt: „Bosnien und Herzegowina kann nur in der Gemeinschaft funktionierten, nicht in der Teilung. Das Ziel muss ein Bürgerprinzip sein, und nicht die Einrichtung ethno-nationaler Ghettos und die Konservierung ihrer Anführer.“ Die Interventionen des Hohen Repräsentanten seien daher abzulehnen. Serbien und Kroatien führten die Politiken Tudjmans und Milosevics weiter - dies stelle eine fundamentale Gefahr für Bosnien da, warnt Galic und fordert: Deutschland müsse sich diesen Politiken entgegenstellen, statt sich auf die Seite derer zu schlagen, die diese inhumanen Politiken stärkten.

Resümee

Vor dem Hintergrund der beschriebenen Prozesse erscheint eine Kurskorrektur des deutschen Engagements auf dem Balkan dringend angeraten. Appeasement gegenüber völkischen Ideen führt zu einer Stärkung der Separatisten und Segregationspolitiken, die mit Russland eine gefährliche Achse der Destabilisierung bilden – dies untergräbt deutsche und europäische Sicherheitsinteressen. Die derzeitigen Angriffe auf die multiethnischen Staaten des Westbalkan (Kosovo, Bosnien und Herzegowina, Montenegro) müssen im Kontext des Angriffskrieges auf die Ukraine mitreflektiert werden. Hier bedarf es klarer Abgrenzungen gegenüber Teilungsszenarien und Beschwichtigungs-Deals, betrieben von Washington und dem fehlbesetzten amtierenden Hohen Repräsentanten in Bosnien. Deutschland kann in der Ukraine-Krise nur dann glaubhaft daran mitwirken, das Prinzip der Freiheit gegen die Vernichtungspolitik des Kreml zu verteidigen, wenn die Auseinandersetzung mit den Tätern der Balkankriege und ihren Nachfolgern ohne Zugeständnisse zu Ende geführt wird.


[1] Kritik übten in diesem Zusammenhang unter anderem auch US-Senatoren

[2] Nach Informationen der Analystin Tanja Topic fehlten bei der Nachzählung der RS dutzende Säcke mit Stimmzetteln. Sie betont, dass von einer finalisierten Nachzählung hier keine Rede sein könne.