Die Spielräume werden enger: Die Folgen von Putins Krieg für Ungarns Politik

Seit 2010 war es ein Grundpfeiler ungarischer Außenpolitik, Handel, ausländische Direktinvestitionen sowie Entwicklung zu fördern, indem man Verbindungen zu möglichst vielen Wirtschaftsmächten auf- und ausbaut. Gleichzeitig mussten die angestammten sicherheits- und verteidigungspolitischen Verpflichtungen gegenüber den Verbündeten in EU und NATO weiter bedient werden, gibt es zu ihnen doch keine tragfähigen Alternativen, und zudem will eine breite Mehrheit der ungarischen Bevölkerung es so. Dieser Zwiespalt zwischen einer unverblümt an wirtschaftlichen Interessen ausgerichteten Außenpolitik, die sich gelegentlich an den stärker wertebasierten Ansätzen der Verbündeten reibt, bedeutet für die ungarische Außenpolitik einen Drahtseilakt, und das führt dann und wann zu scharfer Kritik der westlichen Bündnispartner. Diese ganz auf ihre Zweckmäßigkeit ausgerichtete Außenpolitik gegenüber nicht-westlichen Wirtschaftsmächten wird durch innenpolitische Entwicklungen gestärkt, wozu die anti-liberale Politik der Regierung ebenso gehört, wie Viktor Orbáns Überzeugung, ein grundlegender Wandel der internationalen Beziehungen zugunsten der nicht westlichen und nicht demokratischen Länder sei unvermeidlich.

Auf eben diese beiden Faktoren stützten sich auch Ungarns Verbindungen zu Russland, sah man in Moskau doch sowohl in der Energieversorgung als auch bei der industriellen Fertigung eine mögliche Quelle wirtschaftlicher Vorteile. Zudem arbeiteten die beiden Staatschefs auch deshalb zusammen, weil sich ihre anti-liberale und dem Westen kritisch gegenüberstehende Weltsicht teilweise deckte. Orbán bereitete es deshalb keine Schwierigkeiten, auch während Krisen wie in den Jahren 2014/15 weiter „normale Beziehungen‟ zu Putin zu unterhalten. Obgleich Ungarn jedoch hier und da sein Veto gegen gewisse EU-Beschlüsse einlegte, die China oder Russland hätten Kopfscherzen bereiten können, handelte es sich dabei doch vor allem um kleine, symbolische Aktionen. Bei grundlegenden Fragen, wie der Verhängung oder Verlängerung von Sanktionen gegen Russland seit 2014, hat Premierminister Orbán die Linie der EU und NATO stets mitgetragen.

Während Ungarn sich in den Randbereichen der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen bewegte, ist das Verhältnis zwischen Ungarn und der Ukraine über Streitfragen rund um die ungarische Bevölkerungsgruppe sehr gespannt. Das ist besonders deshalb ungewöhnlich, da Ungarn die Beziehungen zu allen seinen anderen Nachbarn normalisiert hat, und Spannungen rund um ethnisch ungarische Gruppen in diesen Ländern heute kaum noch Thema sind. Die Autonomie der in Transkarpathien lebenden Ungarn (möglicherweise im Rahmen einer kulturellen Autonomie) hat Orbán hingegen während der Donezk-Krise im Jahr 2014 thematisiert und dabei das Bildungsgesetz der Ukraine scharf kritisiert. Erschwert wurde so die institutionelle Annäherung von NATO und Ukraine, da Ungarn hier oft im Alleingang gegen alle anderen Staaten stimmte.

Die Folgen unmittelbar nach Russlands Angriff

So wie Putin die Reaktionen auf seinen Angriffskrieg unterschätzt hat, so unterschätzte Orbán die Wahrscheinlichkeit, es könne soweit kommen. Als Orbán im Februar 2022 Moskau besuchte, sprach man über die Zusammenarbeit bei der Energieversorgung und, als gebe es keine bedeutenden Probleme, bezeichnete man den Besuch anschließend als „erfolgreiche Friedensgespräche‟. Von dem, was dann geschah, wurde die ungarische Regierung überrumpelt, hatte man doch bis zuletzt bestritten, dass eine Kriegsgefahr überhaupt bestehe, und entsprechend schwer tat man sich klarzustellen, wie Ungarn zu dem Krieg steht – während gleichzeitig der eigene Spielraum für politische Manöver erheblich schrumpfte. Die rasche, unnachgiebige wie einstimmige erst politische und dann auch wirtschaftliche Antwort der westliche Verbündeten auf Russlands Angriffskrieg machte es Ungarn unmöglich, neutral zu bleiben. Rückblickend kann man sagen, die ungarische Regierung habe zwar mit ihrer Einschätzung richtig gelegen, die Welt werde sich grundlegend ändern – weg von der Hegemonie des Westens und hin zu einer multipolaren Ordnung –, die Schlüsse, die sie daraus zog, waren jedoch die falschen, denn man war davon ausgegangen, dieser Wandel werde den eigenen Spielraum erweitern. Russlands Krieg gegen die Ukraine, und die Absicht des Westens, Russland nun komplett zu isolieren, zeigen, eine multipolare Weltordnung wird die außenpolitischen Spielräume nicht erweitern, ganz im Gegenteil, sie werden zusammenschnurren, da der Druck, zu einem Block zu halten, sehr wahrscheinlich zunehmen wird. Die überwältigende Unterstützung des Westens für den Kampf der Ukraine und die internationale Sympathie für Kiew, lässt es nicht zu, sich bei den Beziehungen zwischen Ungarn und Ukraine querzulegen. Über Nacht musste Ungarn seine Haltung, was die Aufnahme von Flüchtlingen betrifft ebenso aufgeben, wie seine Position zum Verhältnis NATO-Ukraine. Die Lage erlaubte es weder, eine pro-russische Haltung einzunehmen noch irgendwie zwischen den Blöcken zu lavieren.

In diesem angespannten Umfeld zog sich die Regierung auf eine eigenartige Stellung zurück, indem sie dafür plädierte, Ungarn müsse sich ‚in jeder Hinsicht aus dem Krieg heraushalten‛. Premier Orbán sagte, das Land müsse ‚strategische Ruhe‛ bewahren und, ohne zu sehr auf Konfrontation zu gehen, Russlands Angriff verurteilen, die Wahrung der Staatsgrenzen der Ukraine fordern, sich für Frieden einsetzen und den weitreichenden politischen, wirtschaftliche und militärischen Maßnahmen der NATO- und EU-Verbündeten nicht im Wege stehen. Gleichzeitig werde es jedoch keine direkte militärische Hilfe für die Ukraine geben, sei es von Ungarn aus oder über ungarisches Gebiet. In den ersten Tagen des Kriegs wurde diese verhaltene Reaktion von den meisten Menschen in Ungarn unterstützt.

Bei den Verbündeten wie bei Russland hat Ungarns außenpolitischer Sonderweg zu einem durchwachsenen Echo geführt. Ungarns derzeitige außenpolitische Haltung entspricht weder der der meisten NATO- und EU-Staaten, noch der der anderen mitteleuropäischen Länder, die durch die Bank Russland scharf kritisieren. Weder US-Außenminister Blinken noch NATO-Generalsekretär Stoltenberg haben während ihrer Besuche in den Ländern an der Ostgrenze einen Stopp in Ungarn eingelegt. Auch Ungarns wichtigste Partner in der Region, nämlich die Länder der Visegrád-Gruppe, unterstützen die pro-ukrainische europäische Politik viel eindeutiger, als Ungarn. In Polen und der Slowakei wurden zur Abschreckung große neue NATO-Einheiten stationiert, und Tschechien, Polen und die Slowakei stehen der Ukraine mit Waffen und anderer Militärhilfe zur Seite. Allerdings hat die ungarische Regierung bislang Sanktionen gegen Russland nicht durch ihr Veto verhindert, und sie wird dies wohl auch in Zukunft kaum tun. Diese Zurückhaltung schützt Ungarn jedoch nicht davor, wie alle anderen EU-Staaten, von Russland als „feindliches Land‟ eingestuft zu werden. Es ist auch kaum anzunehmen, Russland würde in der gegenwärtigen Lage irgendeine Ausnahme zugunsten Ungarns machen.

Wirtschaftliche Beweggründe und Auswirkungen

Handelspolitische Erwägungen sind lange schon ein wichtiger Teil der ungarischen Außenpolitik. In den letzten Jahren erhielt allerdings die einstige Zuversicht über die Zusammenarbeit mit Russland einen deutlichen Dämpfer. Für ungarische Exporte verlor der russische Markt nach und nach an Bedeutung. Gingen im Jahr 2012 noch 3,2 Prozent von Ungarns Ausfuhren nach Russland (womit es der wichtigste Absatzmarkt außerhalb der EU war), so war dieser Anteil 2019 auf 1,7 Prozent gefallen. Mittlerweile haben, das überrascht, nicht nur die USA mit 2,8 Prozent einen höheren Anteil, sondern mit 2,0 Prozent auch die Ukraine (2019). Investitionen und besonders Niederlassungen russischer Firmen in Ungarn spielen kaum eine Rolle. Bei dem 12,5 Milliarden EUR schweren Vertrag mit Rosatom über den Bau eines 2400 MW-starken Atomkraftwerks (genannt Paks-2), der im Januar 2014 geschlossen worden war, hatte es kaum Fortschritte gegeben, und Anfang 2022 befand er sich noch im Genehmigungsverfahren. Die Verhandlungen mit Rosatom waren schwierig und zäh. Der einzige nennenswerte Erfolg war die Vereinbarungen über den Bau der Balkan-Stream-Pipeline und die langfristige Lieferung von Erdgas, beides Ende 2021. Es überrascht deshalb nicht, dass die hohen Erwartungen, welche Ungarns Establishment einst von der Zusammenarbeit mit Russland hatte, einen deutlichen Dämpfer bekommen haben. In Ungarn schaut man zunehmend nach Fernost, denn dort gibt es Wirtschaftspartner und Investoren, die nicht nur deutlich mehr bieten, sondern die auch bereit sind, Geld in Ungarns Wirtschaft zu stecken.

Durch den russisch-ukrainischen Krieg hat sich 2022 die Lage deutlich verschlechtert. Exporte in und Investitionen aus dem Osten dürften einbrechen und gemeinsame Wirtschaftsprojekte stagnieren (wie beispielsweise die Herstellung von Transportmitteln mit Ägypten oder ein Logistik-Terminal für chinesische Einfuhren). Auch das Paks-2-Projekt steht auf der Kippe. Das Projekt soll durch die russische VEB-Bank finanziert werden, doch ist diese nun von SWIFT ausgeschlossen. Unklar ist auch, ob westliche Firmen wie General Electric, Siemens und andere in Zukunft Komponenten liefern werden, die für das Vorhaben entscheidend sind. Zwar verteidigt die ungarische Regierung den Bau weiterhin, da sich anders in Zukunft niedrige Strompreise nicht halten ließen, und entsprechend stützt sie solche Sanktionen, die das Vorhaben gefährden können, nicht, doch was aus Paks-2 wird ist nicht länger nur eine Angelegenheit zwischen Russland und Ungarn. Auch Ungarns Energieimporte könnten kurz- oder mittelfristig in Gefahr sein. Handelspolitische Argumente für enge ungarisch-russische Beziehungen gibt es so gut wie keine mehr.

Perspektiven

Wie Ungarn reagiert, ist auf kurze Sicht stark abhängig von den Parlamentswahlen, die am 3. April 2022 stattfinden. Botschaften wie ‚Risiken vermeiden‛, ‚Stabilität‛, ‚Kontrolle‛, ‚Frieden‛ und ‚Konfliktvermeidung‛ sollen Ungarns Öffentlichkeit ansprechen – und ob sich das ändert, wird ganz vom Ausgang der Wahl abhängen. Wenn Premierminister Orbán an der Macht bleibt – und das scheint momentan wahrscheinlich – ist sehr fraglich, ob sich an der gegenwärtigen Politik etwas verschiebt.

Dennoch hat der Krieg wesentliche Elemente des Programms der Regierungspartei Fidesz zu Makulatur gemacht. Vor dem Konflikt setzte die Regierung auf flüchtlingsfeindliche Parolen und stemmte sich gegen jede Form von Einwanderung. Seither hat Ungarn, und das ohne zu zögern, seine Grenzen für Flüchtlinge aus der Ukraine geöffnet und innerhalb von drei Wochen (bis zum 13. März) wurden 255.000 Menschen aufgenommen – eine wahrscheinlich höhere Zahl, als während der Flüchtlingskrise 2015. Dazu mussten im Handumdrehen Gesetze geändert werden, und selbst Ungarns Verteidigungsminister sprach sich öffentlich dafür aus, Flüchtlinge unterzubringen und ihnen humanitäre Hilfe zu leisten. Das Programm der Regierung, mittels Paks-2 niedrige Energiepreise zu garantieren, steht ebenfalls auf der Kippe. Aktuell zahlen Privatverbraucher nur einen Bruchteil des Einfuhrpreises für Erdgas (zwischen 15 und 20%), was die staatlichen Energieversorger schwer belastet. Zwar ist unklar, wie es in Zukunft hier weitergehen soll, doch der bisherige Ansatz der Regierung und die enge Zusammenarbeit mit Russland stehen auf dem Prüfstand.

Es ist möglich, dass die Regierung von Viktor Orbán diese plötzlichen Kurswechsel ohne großen Schaden übersteht. Sie kontrolliert einen Großteil der Sendeanstalten, ist geübt darin, ‚massenhafte Erinnerungsverluste‛ herbeizuführen und die eigenen Botschaften komplett umzufrisieren, wodurch es ihr leicht fällt umzusteuern und nicht länger passende Positionen aufzugeben. Einer geeinten Opposition könnte der russische Krieg gegen die Ukraine nutzen. Obgleich aber der Konflikt den anti-russischen und pro-westlichen Positionen der Opposition Aufwind gibt, und diese insgesamt stärker am westlichen Mainstream ausgerichtet ist, scheint ihr Versuch, den Krieg im Wahlkampf gegen Orbán und Fidesz zu verwenden, bisher keinen Erfolg zu haben. Langfristig könnte der Krieg Ungarns Außenpolitik in anderer Hinsicht dauerhaft verändern. Erstens wird Ungarn hierdurch zum Frontstaat eines großen Konflikts, was die Struktur der Außen- und Sicherheitspolitik verändern wird. In der Vergangenheit hatten Orbáns Regierungen verteidigungspolitisch wenig zu sagen. Zweitens hat der Krieg das recht friedvolle Umfeld erschüttert, in dem Orbán im vergangenen Jahrzehnt Politik machen konnte. Sollte Orbán wie zuvor politisch gegen die Ukraine agitieren, wäre dies töricht und sehr gefährlich. Der Westen wird in Zukunft, was strategische Fragen angeht, wahrscheinlich viel empfindlicher reagieren, und entsprechend wird Ungarn nicht weiter wie bisher agieren können. Drittens sind Vorhaben wie besonders das Paks-2-Projekt durch den Krieg zu einer Belastung geworden. Viertens und letztens, wird sich erst noch zeigen müssen, wie der Westen in Zukunft mit denjenigen umgeht, die sich nicht an die gemeinsame Linie halten. Je nachdem, wie sich die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik entwickelt – und ob sich das europäische Energieversorgungssystem entsprechend umbauen lässt – ist denkbar, dass Ungarn unmittelbaren politischen und wirtschaftlichen Druck aus Berlin zu spüren bekommt, und über solchen Druck könnte man sich nicht einfach hinwegsetzen, denn Deutschland ist Ungarns wichtigster Handelspartner. Zwar wird Ungarn sicher seine Beziehungen mit China, der Türkei und anderen nicht-westlichen Mächten unverändert fortführen, doch die europäischen und transatlantischen Beziehungen nach Ende des Krieges könnte es zwingen, seine Positionen in einige Punkten zu ändern.

Aus dem Englischen übersetzt von Bernd Herrmann.