Die EU-Innenminister:innen beraten über die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), wodurch Grenzverfahren und Inhaftierungen von Schutzsuchenden an den EU-Außengrenzen drohen. Der Historiker Sascha Schießl analysiert die geplante Reform und ihre Folgen aus menschenrechtlicher Perspektive und warnt vor einer faktischen Abschaffung des Rechts auf Asyl.
Die Außengrenzen der EU als Orte der Gewalt und Rechtlosigkeit
Seit Jahren werden die europäischen Außengrenzen mehr und mehr zu rechtsfreien Räumen, in denen Schutzsuchende staatlicher Gewalt ausgesetzt sind und ihrer Rechte beraubt werden. Erst kürzlich konnte die New York Times belegen, dass die griechische Küstenwache Schutzsuchende, unter ihnen kleine Kinder, auf griechischem Boden aufgreift, sie auf Boote verschleppt und anschließend auf dem offenen Meer aussetzt. Pushbacks dieser Art wurden in den vergangenen Jahren vielfach an Europas Grenzen dokumentiert. Zugleich ist der Weg nach Europa die tödlichste Fluchtroute der Welt. Allein in den vergangenen zehn Jahren sind über 26.000 Menschen auf der Flucht nach Europa an den europäischen Außengrenzen gestorben oder gelten als vermisst. Europa scheint sich an dieses Sterben gewöhnt zu haben und nimmt die systematischen Menschenrechtsverletzungen hin.
Warum leitete die EU-Kommission keine Vertragsverletzungsverfahren etwa zu Griechenland ein, obwohl sie doch Hüterin der Verträge ist und die griechischen Rechtsbrüche von Wissenschaftler:innen und Journalist:innen vielfach dokumentiert wurden? Ganz offenbar mangelt es der EU an dem Willen, die vielbeschworene „Ordnung“ an den Außengrenzen dadurch herzustellen, dass europäisches und internationales Recht durchgesetzt wird.
Statt sichere Fluchtwege nach Europa zu schaffen, an den EU-Außengrenzen die schnelle Aufnahme und Verteilung aller Schutzsuchenden innerhalb der EU zu organisieren und ein wirksames Verfahren zu entwickeln, um Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen zu dokumentieren und zu unterbinden, haben die EU und Mitgliedsstaaten die europäische Abschottungspolitik und die Entrechtung von Schutzsuchenden immer weiter vorangetrieben: mit dem Bau neuer Grenzzäune, dem EU-Türkei-Deal, der Zusammenarbeit mit der aus kriminellen Milizen bestehenden „libyschen Küstenwache“ und der Behinderung der zivilen Seenotrettung im Mittelmeer; der Errichtung geschlossener Lager auf den griechischen Inseln und den systematischen Pushbacks von Schutzsuchenden durch Grenzbeamt:innen der Mitgliedsstaaten mit Unterstützung und Billigung der EU-Grenzschutzagentur Frontex – und mit einer Debatte, die Menschen auf der Flucht nur noch zum „Problem“ erklärt und sie für die vermeintliche „Unordnung“ an den Grenzen verantwortlich macht.
Pläne der Abschottung und Entrechtung: Die „Reform“ des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems
Mit den Plänen der EU-Kommission und vieler Mitgliedsstaaten zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) soll nun das, was – vor allem in Griechenland – längst bestehende Praxis ist, auf eine EU-weit einheitliche rechtliche Basis gestellt werden.1 Seit 2015/16 werden dazu umfangreiche Vorschläge der EU-Kommission diskutiert. Angesichts der kollidierenden Interessen der Mitgliedsstaaten wurden die Pläne, denen neben den Mitgliedsstaaten auch das EU-Parlament zustimmen muss, bislang allerdings nicht verabschiedet, sondern lediglich verschiedene ad hoc-Maßnahmen umgesetzt.
Zwischenzeitlich hat die Kommission die Entwürfe ihrer Verordnungen angepasst und verschärft. So wurde etwa im von Horst Seehofer geführten Bundesinnenministerium der Plan ersonnen, Asylverfahren in geschlossenen Lagern an den EU-Außengrenzen durchzuführen und zugleich so vielen Schutzsuchenden wie möglich den Zugang zum EU-Asylsystem grundsätzlich zu versperren. Die Seehofer-Ideen flossen dann in den im September 2020 vorgestellten „New Pact On Migration“ ein, mit dem die EU-Kommission ihre Vorschläge bündelte.2
Während die Zeit der großen Koalition mit CSU-Innenminister Horst Seehofer von einer fortwährenden Verschärfung des Asylrechts geprägt war, bestand mit der Regierungsübernahme der Ampel aus menschenrechtlicher Sicht zunächst die vorsichtige Hoffnung auf einen moderaten Wandel der deutschen Haltung. Zwar war der Koalitionsvertrag in den Feldern Flucht, Asyl und Migration keineswegs fortschrittlich. Doch SPD, Grüne und FDP hielten zumindest fest: „Wir wollen die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden.“ Davon kann nun keine Rede mehr sein.
Denn als die Debatte um die GEAS-Reform im Frühjahr 2023 erneut Fahrt aufnahm, einigte sich die Bundesregierung überraschend und im Widerspruch zum Koalitionsvertrag darauf, die Pläne der EU-Kommission mitzutragen. Zugleich beschlossen Bund und Länder beim Flüchtlingsgipfel am 10. Mai 2023 weitere Verschärfungen des Asylrechts, etwa eine Ausweitung der Abschiebehaft. Die Bundesregierung setzt damit den restriktiven Kurs des früheren Innenministers Seehofers fort, den SPD und insbesondere die Grünen als Oppositionspartei scharf kritisiert hatten.
Die faktische Abschaffung des Rechts auf Asyl – Grenzverfahren in geschlossenen Haftlagern
Sollte die GEAS-Reform beschlossen und umgesetzt werden, würde dies die faktische Abschaffung des Rechts auf Asyl in der EU bedeuten. Für Schutzsuchende wäre der Zugang zum Asylsystem der Europäischen Union in der Praxis drastisch erschwert und sehr vielen sogar gänzlich versperrt. Alle Geflüchteten, die die Europäische Union erreichen, würden zunächst in geschlossenen Haftlagern an den EU-Außengrenzen inhaftiert werden, wo dann hinter Mauern und Stacheldraht verschiedene Prozeduren – Screening und Grenzverfahren – durchgeführt würden, die bis zu sechs Monaten und länger dauern können.3 Umgesetzt werden diese Verfahren für verschiedene Schutzsuchende bereits auf den griechischen Inseln, wo geschlossene Haftlager errichtet wurden und Schnellverfahren erprobt werden. Die Grenzverfahren betreffen dabei nicht nur einige wenige Schutzsuchende mit geringer Schutzquote. Vielmehr ist in den Verordnungen angelegt, dass letztlich alle Schutzsuchenden ein Grenzverfahren durchlaufen müssen. Denn die Verfahren sollen auch für all jene gelten, die über einen vermeintlich „sicheren Drittstaat“ in die EU geflohen sind.
In den Grenzverfahren geht es dabei zunächst gar nicht um ein Asylverfahren. Als erstes wird nur geprüft werden, ob die Schutzsuchenden durch einen „sicheren Drittstaat“ in die EU gekommen sind, die individuellen Fluchtgründe spielen keine Rolle. Die Kriterien für einen solchen „sicheren Drittstaat“ werden dabei in den Entwürfen der EU-Kommission so stark aufgeweicht, dass selbst ein Land wie die Türkei, die die Genfer Flüchtlingskonvention nicht vollumfänglich unterzeichnet hat und regelmäßig Schutzsuchende nach Syrien und Afghanistan abschiebt, als „sicher“ gilt. Über diesen juristischen Kniff können die Asylanträge der Schutzsuchenden als unzulässig abgelehnt und die Schutzsuchenden ohne inhaltliche Prüfung ihrer Asylgründe abgeschoben werden. Ein echter Rechtsschutz besteht dagegen nicht, denn es gilt die Fiktion der Nicht-Einreise, es wird also – ähnlich wie in Flughafenverfahren – so getan, als seien die Schutzsuchenden, die längst in der EU sind, gar nicht in der EU, um ihnen damit den Zugang zum EU-Rechtssystem zu verwehren.4 Das Grundrecht auf Asyl wird damit faktisch abgeschafft.
Selbst wenn es zu Asylverfahren kommen sollte, würden diese als Schnellverfahren kurz nach der Ankunft der Schutzsuchenden erfolgen, also in einem Moment, in dem sich die Geflüchteten noch in einem physischen und psychischen Ausnahmezustand befinden. Zugleich sind unter haftähnlichen Bedingungen, das zeigt die aktuelle Praxis in Griechenland, die Zugänge zu einer unabhängigen Asylverfahrensberatung und zu einem Rechtsbeistand massiv erschwert. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Schutzquote in solchen Schnellverfahren deutlich niedriger ist als in regulären, sorgsameren Asylverfahren in den Mitgliedsstaaten, in denen dann auch noch ein regulärer Klageweg offensteht.5
Darüber hinaus halten die vorgeschlagenen Verordnungen an dem längst gescheiterten Dublin-System fest, also dem Prinzip, dass der Ersteinreisestaat für die Asylverfahren der Schutzsuchenden zuständig ist. Eine verpflichtende Verteilung der Schutzsuchenden auf alle Mitgliedsstaaten und damit ein solidarisches System ist dagegen nicht vorgesehen. Warum sollten die in dieser Weise benachteiligten Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen, die seit Jahren systematisch Recht brechen, nach der GEAS-Reform plötzlich rechtskonform agieren? Immerhin sollen sie für alle Verfahren zuständig sein und müssen dafür große Haftlager auf ihrem Boden betreiben. Es spricht vielmehr alles dafür, dass sie wie bisher versuchen werden, Schutzsuchende mit gewaltsamen Pushbacks aus der EU zu drängen, oder, soweit das nicht gelingt, diese ohne Registrierung und ohne Versorgung „durchzuwinken“, um nicht für alle Verfahren zuständig sein zu müssen.
Der Rechts- und Politikwissenschaftlicher Maximilian Pichl weist zudem darauf hin, dass die Regelungen zum Grenzverfahren nicht nur an den Außengrenzen gelten würden, sondern auch für jene Schutzsuchenden Anwendung finden könnten, die es abseits dieser Verfahren nach Deutschland schaffen würden. Zudem würde die EU-Reform statt mit Richtlinien, die in nationales Recht umzusetzen wären, nun in Form von Verordnungen durchgesetzt werden, die (nach einer Übergangsfrist) direkt rechtsverbindlich in den Mitgliedstaaten gelten würden. Damit wäre das deutsche Asylverfahrensrecht hinfällig, es würden nunmehr die weit restriktiveren EU-Regelungen gelten, Anpassungen und Ausgestaltungen wären nicht mehr möglich.
Zivilgesellschaft warnt vor Aushöhlung der Menschenrechte
Menschenrechtsorganisationen, Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Migrationsforscher:innen, Jurist:innen und Selbstorganisationen von Geflüchteten kritisieren die Pläne von EU-Kommission und Mitgliedsstaaten sowie die schon etablierten Praktiken seit vielen Jahren. In unzähligen Appellen, Stellungnahmen und Studien weisen sie darauf hin, dass die menschenrechtliche Situation an den europäischen Außengrenzen noch verheerender werden würde, wenn Grenzverfahren, Drittstaatenregelungen und die Inhaftierung von Schutzsuchenden in geschlossenen Lagern im EU-Recht verankert werden würden.
Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland Annette Kurschus wandte sich in mehreren Stellungnahmen gegen verpflichtende Asylverfahren an den Außengrenzen und kritisierte die immer schärfere Abschreckungspolitik der EU, bei der es statt um einen Flüchtlingsschutz immer stärker um einen Schutz vor Geflüchteten gehe. „Wir müssen höchst alarmiert sein, wenn rechtsstaatliche Prinzipien und Menschenrechte so ausgehöhlt zu werden drohen, dass sie keine mehr sind.“ Die christlichen Kirchen haben auch gemeinsam zu einem stärkeren Schutz von Geflüchteten aufgerufen. In einem Gemeinsamen Wort zur 48. Interkulturellen Woche appellierten der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Georg Bätzing, die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus und der Vorsitzende der Orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland Metropolit Augoustinos im Mai 2023 an Politik und Verwaltung, „das Recht auf Asyl zu verteidigen, faire Verfahren zu garantieren und Menschen in Not zu ihrem Recht zu verhelfen.“ Es könne niemals „die ‚Lösung‘ sein, die europäischen Außengrenzen für Schutzsuchende zu verschließen und dabei in Kauf zu nehmen, dass Menschenrechte nicht beachtet werden.“
In einer gemeinsamen Erklärung kritisierten über 50 Organisationen – Menschenrechts- und Seenotrettungsorganisationen, Wohlfahrtsverbände und evangelische Landeskirchen – den Kurs der Bundesregierung, der in eklatantem Widerspruch zum eigenen Koalitionsvertrag stehe. Die Pläne seien ein „Rückzug aus dem Flüchtlingsschutz in der Europäischen Union, vergleichbar mit dem deutschen Asylkompromiss vor dreißig Jahren.“ Der Republikanische Anwältinnen‐ und Anwälteverein e.V. (RAV) erklärte, die Bundesregierung breche „mit dem bisherigen Konsens der Politik in Deutschland nach 1945.“
Darüber hinaus konstatieren über 800 Rechtsanwält:innen und Jurist:innen in einem offenen Brief, es drohten die „massivsten Verschärfungen des Flüchtlingsrechts seit Jahrzehnten.“ Die Bundesregierung stelle mit ihren Asylrechtsverschärfungen auf nationaler wie europäischer Ebene „das Recht von Geflüchteten“ und „den Rechtsstaat als solchen“ in Frage. „Das aus den Lehren des Nationalsozialismus geborene Flüchtlingsrecht ist kein hehrer Grundsatz. Es geht um ein fundamentales Menschenrecht, das mit einem effektiven Verfahren flankiert werden muss. Schutzansprüche und Verfahrensrechte haben verfassungsrechtlichen und völkerrechtlichen Rang.“ Die Jurist:innen fordern die Bundesregierung daher auf, diese auf Abschottung und Rechtlosigkeit setzende Politik zu stoppen und „dem rechten Diskurs eine Politik der Menschenrechte“ entgegenzusetzen.
Der Rat für Migration, ein Zusammenschluss von 190 Migrationsforscher:innen, fordert die Bundesregierung ebenfalls auf, die GEAS-Reform zu stoppen, die nicht geeignet sei, „um die Krise der Migrationspolitik in Europa zu beenden.“ „Forschungen zu den schon in Pilotprojekten umgesetzten Maßnahmen des Reformpakets zeigen deutlich: Weder können diese menschenrechtskonform umgesetzt werden, noch sind sie geeignet, um die berechtigten Forderungen der EU-Mitgliedstaaten an den Grenzen der EU nach einer tatsächlichen europäischen Solidarität zu erfüllen.“
Eine entgrenzte Debatte
Der so breite zivilgesellschaftliche Protest findet in der Politik allerdings nur wenig Gehör. Denn die Debatte in Deutschland wird mittlerweile entgrenzt, faktenfrei und historisch vergessen geführt. Während die Ampelkoalition entschlossen scheint, die Abschottungspläne mitzutragen, stellen CDU und CSU mittlerweile gar die Genfer Flüchtlingskonvention, eine zentrale Errungenschaft des internationalen Rechts, infrage.6 Statt von Geflüchteten sprechen Politiker:innen von „irregulärer Migration“7 und unterschlagen dabei, dass es keine legalen Möglichkeiten gibt, an den EU-Außengrenzen einen Asylantrag zu stellen. „Humanität“ und „Ordnung“ werden an den Außengrenzen angemahnt und für ihr vermeintliches Fehlen Schutzsuchende verantwortlich gemacht statt jene, die Geflüchtete mit Gewalt über Grenzen prügeln, Elendslager zu verantworten haben und systematisch internationales, europäisches und nationales Recht brechen.
Politiker:innen begründen die Abschottungspläne nicht zuletzt mit einer Überlastung der Kommunen. Tatsächlich aber kamen 80% aller Schutzsuchenden, die 2022 in Deutschland eintrafen, aus der Ukraine. Ihre Aufnahme wird von Regierung und Parteien (zurecht) nicht hinterfragt, ihr Schutzbedarf nicht infrage gestellt. Verhindert werden soll vielmehr, dass Menschen aus Syrien, Afghanistan, dem Iran oder Eritrea die EU erreichen. Dabei erwecken Politiker:innen oftmals auch noch den Eindruck, dass sehr viele (der nicht aus der Ukraine kommenden) Geflüchteten in Deutschland gar kein Recht auf Schutz hätten. Doch die Schutzquote für jene Asylsuchende, die es trotz aller Widerstände nach Deutschland geschafft haben und die im Gegensatz zu den Ukrainer:innen ein Asylverfahren durchlaufen müssen, ist außerordentlich hoch. Im Jahr 2022 und in den ersten vier Monaten diesen Jahres beschied das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bei über 72 % der inhaltlichen Entscheidungen auf einen Schutzstatus.8 Gerichtsurteile, die nach einer ersten Ablehnung durch das BAMF den Geflüchteten noch einen Schutzstatus zusprechen, sind hier noch gar nicht eingerechnet.
Fazit: „Besser keine Reform als diese“
Jetzt eine schlechte GEAS-Reform zu verabschieden würde nur die fortwährenden Rechtsbrüche an den europäischen Außengrenzen legalisieren und die menschenrechtliche Lage weiter verschlimmern. Es gilt daher, wie der Rat der Migration schreibt: „Besser keine Reform als diese“.
Stattdessen muss die EU-Kommission erstens den Rechtsstaat durchsetzen und Vertragsverletzungsverfahren gegen jene Staaten einleiten, die etwa mit Pushbacks und mit fortwährender Gewalt gegenüber Schutzsuchenden geltendes Recht brechen. Hierauf muss auch die Bundesregierung drängen. Zweitens ist es notwendig, die entgrenzte und faktenfreie Debatte zu beenden, in der Geflüchtete wieder und wieder als „Problem“ markiert werden und eine angebliche Überforderung der deutschen Gesellschaft behauptet wird.9 Wenn dies schon nicht im Interesse von CDU/CSU und der AfD liegt, muss zumindest die Ampelregierung zu einer Versachlichung zurückkehren, und den rechten Narrativen – in Europa wie Deutschland – eine klare solidarische Haltung entgegenstellen und menschenrechtliche Standards verteidigen. So ließe sich auch die Solidarität so vieler Menschen wieder stärken, die sowohl bei den Aufnahmen 2015/16 als auch bei der Ankunft der Ukrainer:innen 2022 enorm engagiert war. Erinnert sei nicht zuletzt an die so vielen Kommunen, die sich in den letzten Jahren zu Sicheren Häfen für Geflüchtete erklärt haben. Viele Oberbürgermeister*innen erklärten sich aufnahmebereit, in ganz Deutschland wurde über Möglichkeiten der kommunalen Aufnahme diskutiert.
Zudem wäre es drittens an der Zeit, das Regelwerk der EU sowie die Praxis an den Außengrenzen von wissenschaftlicher Seite zu durchleuchten und faktenbasierte Reformvorschläge auf den Weg zu bringen. Und tatsächlich findet sich auch im Koalitionsvertrag der Ampel ein weit besserer Ansatz als die Entrechtung von Schutzsuchenden: „Auf dem Weg zu einem gemeinsamen funktionierenden EU-Asylsystem wollen wir mit einer Koalition der aufnahmebereiten Mitgliedstaaten vorangehen und aktiv dazu beitragen, dass andere EU-Staaten mehr Verantwortung übernehmen und EU-Recht einhalten. Die Aufnahmebereitschaft in Deutschland und der EU wollen wir stützen und fördern.“
(1) Für eine rechtliche Einordnung und Kritik der Kommissionspläne: Nora Markard, Paper doesn’t blush: The Commission presents a plan that does nothing to address the realities at the EU borders, in: Heinrich Böll Stiftung Brüssel vom 12. Oktober 2020; Maximilian Pichl, Europas Werk und Deutschlands Beitrag. Wie der EU-Asylkompromiss das Recht auf Asyl aushöhlen könnte, in: Verfassungsblog vom 15. Mai 2023.
(2) EU-Kommission, Migrations- und Asylpaket: am 23. September 2020 verabschiedete Schriftstücke zum neuen Migrations- und Asylpaket.
(3) Die Regelungen finden sich u.a. in den Entwürfen der Asyl- und Migrationsmanagementverordnung, der Screening-Verordnung und der Asylverfahrensverordnung der EU-Kommission vom 23. September 2020.
(4) Vgl. dazu ausführlich Pro Asyl, Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, 23. März 2023.
(5) Vgl. ebd., S. 9f.
(6) Zum Druck auf das internationale Flüchtlingsrecht siehe: Maximilian Pichl, Europas Werk und Deutschlands Beitrag. Wie der EU-Asylkompromiss das Recht auf Asyl aushöhlen könnte, in: Verfassungsblog vom 15. Mai 2023.
(7) „Die irreguläre Migration muss spürbar reduziert werden“, in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 12. Mai 2023, Faeser verteidigt Asyl an EU-Außengrenzen, in: n-tv vom 28. Mai 2023.
(8) Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Aktuelle Zahlen, Ausgabe April 2023. Eigene Berechnungen.
(9) Erinnert sei an die Behauptung des damaligen Bundesinnenministers Seehofer, die Migration sei „die Mutter aller Probleme“; vgl. Seehofer zeigt Verständnis für Demonstranten, in: Süddeutsche Zeitung vom 6. Juni 2018.
Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.flucht-asyl.bayern