Belarus: Protest und Widerstand gegen den Krieg in der Ukraine

Analyse

Im Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine ist das Regime Lukaschenko der einzige regionale Verbündete des Kremls. Das Regime stellte das belarusische Territorium für Aufmarsch und Angriff zur Verfügung und wurde so zur Kriegspartei. Dagegen erklärte die demokratische Bewegung aus Belarus von Anfang an ihre Solidarität mit der Ukraine und hat eine „belarusische Antikriegsbewegung“ ausgerufen. Dabei greifen die Belarus:innen auf gewachsene Strukturen zurück – sie helfen, versorgen, informieren, klären auf, sabotieren und kämpfen, an der Seite der Ukraine für ein anderes Belarus.

Minsk
Teaser Bild Untertitel
Die Belarus:innen sind sich darin einig, das Belarus nicht in den Krieg eingreifen sollte.

Belarus im Krieg

Der Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine beginnt in frühen Stunden des 24. Februar. Ein wichtiger Teil der russischen Invasionsarmee dringt aus Belarus nach Kyjiw vor. Vom nächstgelegenen Grenzpunkt sind es nur 152 km Straßenweg. Aus Belarus werden Raketen abgefeuert, Kampfflugzeuge starten, Hubschrauber heben ab. Von der Grenze rollen gepanzerte Kolonnen Richtung Kyjiw. Der Vormarsch aus Belarus auf die ukrainische Hauptstadt hätte wohl kriegsentscheidend werden sollen. Eine schnelle Einnahme der ukrainischen Hauptstadt, die Beseitigung der Regierung Selenskyj hätte vielleicht der wichtigste Schlag gegen die Existenz einer souveränen und demokratischen Ukraine werden sollen. Erst die heftige Gegenwehr der ukrainischen Armee und Freiwilligenverbände machte dies unmöglich.

Damit das kalkulierte und geplante Szenario dieses Angriffskriegs Realität wird, hat das Regime Lukaschenko fast alles getan. Es stellte das Territorium seines Landes und die gesamte militärische Infrastruktur von Flughäfen, Militärbasen, Reparaturdepots, Versorgungswegen bis zu Hospitälern zur Verfügung. Lukaschenko rechtfertigt diesen Krieg bei jeder sich bietenden Gelegenheit, leugnet die Kriegsverbrechen. Der gleichgeschaltete Apparat der belarusischen Medien macht es seinem Obersten nach und übernimmt vollständig die Formeln, Deutungen und Wertungen der russischen Propaganda. Genauso wie in der Russischen Föderation verfolgen die Sicherheitsbehörden in Belarus jedes Anzeichen von Antikriegsprotest. Nur die eigenen Streitkräfte hat das Regime in Minsk bisher nicht in den Krieg geführt. Der heftige Widerstand der Ukraine, das verlustreiche Scheitern der russischen Armee im Norden, aber wohl auch die ausgeprägte Ablehnung eines direkten Kriegseinsatzes in der eigenen Bevölkerung und unter Militärangehörigen könnten Gründe dafür sein.

Einen Hinweis auf die Stimmung in der belarusischen Bevölkerung geben die Umfragen der „Belarus Initiative“, eines Gemeinschaftsprojekts des „Zentrums für neue Ideen“ und der britischen Denkfabrik Chatham House. In regelmäßigen Online-Umfragen untersucht die „Belarus Initiative“ das Meinungsbild im Land seit September 2020. In der Umfrage vom 5. bis 14. März waren nur 3% dafür, dass Belarus eigene Truppen in den Krieg entsendet. Gleichzeitig unterstützt ein Drittel der Befragten pro-russische Aussagen. In ihren Sympathien sind die Belarus:innen geteilt, doch sind sie sich darin einig, das Belarus nicht in diesen Krieg eingreifen sollte.

Die „belarusische Antikriegsbewegung“

Die demokratische Bewegung bezog bei Kriegsbeginn sofort Stellung. Stellvertretend für wohl die Mehrheit der Belarus:innen wandte sich Swetlana Tichanowskaja gleich am 24. Februar an die Öffentlichkeit. Sie sagte unter anderem: „Heute morgen hat sich alles verändert. Das ist keine innenpolitische Krise mehr – es ist ein Krieg, an dem sich Belarus beteiligt, obwohl wir alle dagegen waren.“ Es gelte diesen Krieg zu stoppen. Die Ukrainer:innen sollen wissen, die Solidarität und Unterstützung der Belarus:innen gilt ihnen, nicht den Aggressoren. Und obwohl die Tatsache, dass Lukaschenko Belarus zur Kriegspartei gemacht hat, sie mit Scham erfüllt, soll die Ukraine wissen: „Wir sind bereit alles was notwendig ist zu tun, um diese Aggression und diese Katastrophe zu stoppen. Im selben Statement kündigt Tichanowskaja die Gründung einer belarusischen Antikriegsbewegung an. Diesem Ziel würden sich ab sofort der Koordinierungsrat, das Anti-Krisen-Kabinett, die Ex-Sicherheitskräfte von BYPOL und alle Partnerorganisationen widmen.

Das Manifest

Wenige Tage später veröffentlichen die demokratischen Kräfte am 1. März 2022 ein „Manifest der belarusischen Antikriegsbewegung". Drei Ziele werden genannt: den Krieg stoppen, die Ukraine gegen die russische Aggression unterstützen, die Macht in Belarus den Bürger:innen zurück geben. Um das zu schaffen postuliert das Manifest drei Prinzipien: Offenheit – wer die Ziele der Bewegung teilt, kann sich als ihr Teil betrachten. Das zweite Prinzip sei die zentralisierte Strategie und die dezentrale Taktik. Die Strategie werde gemeinsam von Vertreter:innen zivilgesellschaftlicher und politischer Organisationen in einem „operativen Stab der demokratischen Kräfte“ bestimmt. Über das eigene taktische Vorgehen entscheiden die Aktivist:innen autonom und dezentral. Es heißt, jede:r müsse für sich wissen, was machbar und notwendig ist, um die Ziele der Bewegung zu erreichen. Begrüßt wird jede Handlung, die nicht das Leben und Gesundheit der Bürger:innen gefährden, wobei das Gesetz das Recht auf Selbstverteidigung garantiere.

 Seit dieser Deklaration am 1. März 2022 erscheinen im Telegram-Kanal „Die Chronik der Antikriegsbewegung" (auf der Webseite des Büros von Tichanowskaja kann diese Chronik auch auf Englisch als „Results of the Belarusian Anti-War Movement“ nachverfolgt werden) die „täglichen Arbeitsergebnisse“: Hilfsaktionen, Konvois, Kampagnen, Protest-, Sabotage-, Widerstandhandlungen u.a.m. Die Chronik stellt all dies, was die Belarus:innen in der Ukraine-Hilfe, bei Antikriegsprotesten, im Widerstands gegen die Aggression leisten in den Zusammenhang einer „belarusischen Antikriegsbewegung“. Vermutlich würden sich nicht alle

Beteiligten selbst zu dieser „Bewegung“ bekennen. Es ist eine proklamierte Bewegung – und doch mit einer realen gemeinsamen Praxis, sich aktiv gegen die Not und den Krieg zu stellen. 

„Chronik der Antikriegsbewegung“

Als erstes wichtigstes Ziel soll die Bewegung mit ihren Aktionen verhindern, dass die belarusische Armee direkt auf dem ukrainischen Boden in den Krieg eingreift. Ein zweites Ziel ist es, der Welt den Unterschied zwischen den Belarus:innen und dem Regime Lukaschenko aufzuzeigen. Um das zu erreichen, geht es um Aufklärung und Information für die Bevölkerung, Mobilisierung und Beratung von Soldaten und ihren Angehörigen, Ungehorsam und Sabotage in Belarus.

Über die diplomatischen Kanäle, auf der internationalen Bühne sind Swetlana Tichanowskaja und der Ex-Diplomat Pawel Latuschka mit ihren Teams aktiv. Sie setzen sich für Sanktionen gegen das Regime ein, unterstreichen die Kriegsbeteiligung und betonen gleichzeitig, wie wichtig es ist, zwischen dem Regime und Belarus:innen zu unterscheiden. Die Bürger:innen des Landes sind weiterhin von Repression und Verfolgung betroffen, sind weiterhin schutzbedürftig, auf Fluchtmöglichkeiten angewiesen und dürfen nicht pauschal diskriminiert werden. Tichanowskaja und Latuschka treffen Botschafter und Regierungsvertreter der EU-Länder und geben gerade in den ersten Kriegswochen, als niemand ein direktes Eingreifen belarusischer Soldaten ausschließen kann, unzählige Interviews, um eine differenzierte Haltung der internationalen Gemeinschaft zu erreichen. 

Belarus:innen im Exil und die Diaspora werden gleich nach Kriegsbeginn zu einem aktiven Teil der internationalen Hilfsbewegung. Jene Netzwerke und Strukturen, die im Protest des Jahres 2020 zur gegenseitigen Hilfe aufgebaut wurden, Exil und Repression überstanden haben, unterstützen jetzt auch die Ukraine und die vielen Kriegsflüchtlinge. Belarus:innen sammeln Gelder und Hilfsgüter, organisieren Konvois in die Ukraine, bringen Geflüchtete raus, engagieren sich als Helfer:innen, liefern Medizin, Ausrüstung, Transportmittel für die ukrainische Armee und die neuen belarusischen Freiwilligenverbände. Beispielhaft für dieses Engagement steht die „Belarus Solidarity Fundation BYSOL, aber nicht nur sie. Da ist das „Zentrum der belarusischen Solidarität“ und die Stiftung „A Country to Live In“ in Warschau, da ist das Free Belarus Center aus Kyjiw, auch die Belarusische Gemeinschaft Razam e.V. aus Deutschland. Dazu kommen viele andere Initiativen, Gruppen und schlicht engagierte Menschen. Die seit 2020 gewachsenen Solidaritätsstrukturen, ihre Erfahrung und nicht zuletzt und trotz allem die Kenntnis der russischen Sprache machen den Beitrag der Belarus:innen wirksam und wertvoll.

Protest, Sabotage, Repression

Aber nicht nur die Engagierten im Ausland sind Teil dieser Bewegung. Trotz der allbekannten Risiken gibt es auch in Belarus selbst Protest und Widerstand seit Kriegsbeginn.

Am 27. und 28. Februar kam es zu den bisher größten Protesten in belarusischen Städten. Nach Angaben des Menschrechtszentrums Wjasna wurden dabei mehr als 1.100 Menschen festgenommen und mindestens 630 blieben in Haft. Es gibt immer wieder Meldungen über Menschen, die alleine auf die Straße gehen, Zeichen gegen den Krieg setzen und dann festgenommen werden. Und es blieb nicht nur bei Protest.

Während des ganzen ersten Monats des Krieges störten Sabotageakte bei der belarusischen Eisenbahn die Verlegung und Versorgung der Invasionstruppen und werden als der „zweite Schienenkrieg“ weltweit bekannt. Seit den ersten Kriegstagen wurden dabei in einzelnen Aktionen elektronische Stellwerke entlang der Gleisstrecken beschädigt. Cyberpartisanen hackten die Systeme der Eisenbahn, nach Angaben von Gewerkschaftern gab es bei Lokführern massenhafte Dienstverweigerung. So gelang es gerade in den ersten Wochen die Eisenbahnverbindungen im kriegsstrategisch wichtigen Süden von Belarus teilweise lahm zu legen, die Truppenverlegung zu verlangsamen, den Nachschub der Invasionstruppen zu stören. Das Innenministerium des Regimes zählte bis Anfang April 80 Sabotageakte. Ein Vertreter der ukrainischen Bahn zollte seinen belarusischen Kolleg:innen Respekt, in dem er Mitte März bekannt gab, dass dank ihnen die Eisenbahnverbindung zwischen Belarus und Ukraine praktische nicht mehr existiert. Der Kontext eines für die Ukraine existentiellen Krieges macht diese Dankbarkeit nachvollziehbar. 

Die Reaktion des Regimes ließ nicht auf sich warten. Bereits in der zweiten Märzhälfte überwachen Spezialeinheiten und die Truppen des Inneren Stellwerkschränke und Gleisabschnitte, setzen Drohnen und Waffen ein. Parallel zu Sabotage, kommt es zu Festnahmen und Repressionen gegen Lokführer und Eisenbahnmitarbeiter, mindestens 38 von ihnen wurden am 30. März verhaftet.  Anfang April zeigt das Staatsfernsehen Bilder von Männern, die bei einer Beschädigung der Relaisschränke festgenommen worden sein sollen. Die Verhafteten waren unbewaffnet, sie bluteten, mindestens einem von ihnen wurden offensichtlich zielgerichtet in die Oberschenkel geschossen.

Im Gegensatz zu diesen Abschreckungsmaßnahmen ist bisher kein einziger Fall bekannt, in dem die Beschädigung der Stellwerke das Leben oder Gesundheit auch nur einer Person in Belarus gefährdet hätte. Dennoch wird den meisten Verhafteten Terrorismus vorgeworfen. Und das Regime geht noch einen Schritt weiter. Ende April hat die Repräsentantenkammer des belarusischen Parlaments in einem Eilverfahren an nur einem Tag Änderungen der „Anti-Terrorgesetze“ durchgewunken. Erst danach erfuhr die Öffentlichkeit davon: schon die Vorbereitung und der Versuch einer Terrortat wird mit der Todesstrafe geahndet. Diesen Gesetzesänderungen fehlt mittlerweile nur noch die Unterschrift von Lukaschenko. Dazu äußern sich belarusischen Jurist:innen und Menschenrechtler:in gegenüber Mediazony.by und stellen fest: die „Terror-Definition der bereits aktuell geltenden Gesetze in Belarus ist schwammig und für willkürliche Deutungen offen. Dazu kommt die maximal politisch motivierte und gesteuerte Ermittlungspraxis der Sicherheitsbehörden und die Verurteilungspraxis der Gerichte. Nun stattet sich die systemgewordene Willkür mit der Möglichkeit aus, ihren tatsächlichen oder vermeintlichen Gegner:innen ganz „legal“ das Leben zu nehmen. Dies zeigt mehr als deutlich, unter welchen Risiken und Gefahren, die Belarus:innen im Land ihren Widerstand leisten.

Balruski Hajun

Eine andere Art des Widerstands in Belarus zeigt das Monitoring-Projekt „Belaruski Hajun. Der Name geht auf eine Gestalt der belarusischen Mythologie zurück. Hajun ist ein Waldgeist, der durch die Augen und Ohren der Waldbewohner über Frieden und Ordnung wacht. Menschen vor Ort informieren über einen Telegram-Bot anonym eine Gruppe rund um den bekannten belarusischen Blogger Anton Motolko. Das Team registriert, verifiziert, wertet aus und veröffentlicht Informationen über jegliche militärische Aktivität im Land. So werden über Textnachrichten, Fotos und Videos die Raketenstarts, Flugrichtungen von Flugzeugen und Hubschraubern, Truppenbewegungen jeglicher Art erfasst. In den ersten siebzig Tagen Krieg registrierte und lokalisierte das Projekt allein 631 Raketen, die aus Belarus auf die Ukraine abgefeuert wurden. Die Idee zum Projekt entstand im Kontext der Verunsicherung, durch die massenhafte Verlegung der russischen Truppen „zu Manöverzwecken“ nach Belarus seit Anfang Januar 2022. Belaruski Hajun startete am 20. Februar als ein Telegram-Kanal, wo alle Meldungen und tägliche Zusammenfassungen veröffentlicht werden. Wie stark das lokale Netzwerk in Belarus ist, zeigt die Auskunft von Motolko selbst gegenüber den ukrainischen Medien. Innerhalb des ersten Kriegsmonats seien bei „Hajun“ 33.000 Meldungen von insgesamt 10.000 Personen eingegangen. So habe sich das Projekt zu einer Art privater Aufklärungsorganisation entwickelt, wie Motolko sagt. Welchen Wert dieser Arbeit hat, zeige für ihn auch gerade die dankbare Reaktion der Ukrainer:innen. Die Meldungen von Belaruski Hajun kommen häufig den Warnsirenen in Angriffsgebieten zuvor und geben den Menschen so rein physisch mehr Zeit, die Luftschutzbunker zu erreichen. Für die Aktivist:innen und Informant:innen in Belarus sei das eine wichtige Motivation – sie gehen zwar ein großes Risiko ein, aber sie retten Menschenleben.

Von Protest zu Widerstand

Dies sind nur einige Beispiele aus der Chronik und der Praxis der „belarusischen Antikriegsbewegung“. Nicht alle in der Chronik geführten Akteure haben selbst ihre Zugehörigkeit zur Bewegung erklärt. Nicht viel ist bisher über die Arbeit des „operativen Stabes“ bekannt. Ob die Kommunikation zwischen einer zumindest angedachten strategischen und der taktischen Ebene auch langfristig in einer gemeinsamen gerichteten Praxis aufgeht, wird sich noch zeigen müssen. Es ist in jedem Fall eine politische Kommunikationsstrategie der demokratischen Bewegung, die nach Innen und Außen einen Zusammenhang für eine reale Praxis von Vielen schafft.   

Verfolgt in Belarus, verdrängt ins Ausland, greifen Belarus:innen auf gewachsene Strukturen und Solidaritätsnetzwerke zurück. Sie helfen, versorgen und unterstützen die ukrainischen Flüchtlinge und jene Landsleute, die nach der Flucht in die Ukraine vor dem Regime ein zweites Mal fliehen mussten. Humanitäre Transporte in die Ukraine werden organisiert, auch Ausstattung für ukrainische Verteidigungskräfte wird gelilefert. Belarus:innen kämpfen an der Seite der ukrainischen Armee und leisteten selbst in ihrem Heimatland unter enormen Risiken Widerstand.

Mit ihrer horizontalen und autonomen Organisationsweise liegt die „belarusische Antikriegsbewegung“ ganz auf der Linie jener sozialen und politischen Praxis, die viele Belarus:innen nach dem Sommer 2020 für sich entdeckt und entwickelt haben. Seit jenem Sommer des politischen Erwachens entwickelt die ursprüngliche Protestbewegung unter hohem Druck, zu einem hohen Preis, vermehrt den Charakter einer Widerstandsbewegung. Und neben den Ukrainer:innen wissen auch die Belarus:innen zu gut worum es ihnen dabei geht: um ein Leben und eine Zukunft jenseits von Angst, Gewalt, Diktatur und Willkür – und jetzt auch einem verbrecherischen Krieg der zwei Regime gegen die Ukraine, den es immer noch zu stoppen gilt.

Interview "Die EU muss mehr tun"