Europa braucht einen Real Green Deal!

Kommentar

Am 1. Juli übernimmt Deutschland den EU-Ratsvorsitz. Corona- und Wirtschaftskrise sind zwar noch nicht überwunden, aber die Klimakrise duldet keinen Aufschub. Deshalb muss sich die Bundesregierung für einen Real Green Deal für Europa einsetzen, der Ökonomie und Ökologie verknüpft und die Weichen in Richtung sozial-ökologische Marktwirtschaft stellt. Wie das aussehen könnte, beschreibt Dr. Ellen Ueberschär, Co-Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung.

Nach mehr als 13 Jahren übernimmt die Bundesrepublik Deutschland zum 1. Juli 2020 wieder den Vorsitz im Rat der Europäischen Union. 2007 stand die EU an einem Scheideweg. Frankreich und die Niederlande hatten in einem Referendum den EU-Verfassungsvertrag abgelehnt. Damals war es an Deutschland, den Verfassungsprozess wiederzubeleben, der später im historischen Vertrag von Lissabon mündete.

Die EU könnte gestärkt aus der Krise hervorgehen

2020 steht die Europäische Union erneut am Scheideweg, jedoch unter ganz anderen Vorzeichen: Die Corona-Pandemie hat Europa in einen nie dagewesenen Stillstand gezwungen, mit unübersehbaren wirtschaftlichen Folgen. Nach anfänglichem Auseinanderlaufen der Mitgliedsstaaten liegt nun ein Vorschlag der EU-Kommission für ein Wiederaufbau-Programm (#nextgenerationEU) auf dem Tisch, der große Hoffnungen bei den besonders stark von der Krise Getroffenen weckt. Er basiert auf einer zuvor veröffentlichten Initiative des französischen Staatspräsidenten Macron und Bundeskanzlerin Merkel. Mit dem vom Parlament begrüßten Kommissionsvorschlag, der nun im Rat verhandelt werden muss – gemeinsam mit dem mehrjährigen Finanzrahmen –  könnte Europa wirtschaftlich und politisch gestärkt aus der Krise hervorgehen.

Viel Zeit bleibt nicht, denn größere Bedrohungen existieren bereits und sind durch die gesundheitliche Bedrohung nur kurzfristig verdrängt worden. Das Klima verändert sich ungebremst, aber spürbar in seinen Auswirkungen: Auch 2020 ist zu beobachten, was schon für die Dürresommer 2018 und 2019 galt: Es regnet kaum. Fast überall in Deutschland und Europa ist es viel zu trocken. Corona- und Wirtschaftskrise sind noch nicht bewältigt, aber die nächste große Herausforderung duldet keinen Aufschub: Um den Klimawandel zu stoppen, muss Europa den Übergang zu einem konsequent ökologischen Wirtschaften schaffen, ohne das Soziale zu vernachlässigen. Und genau das kann mit dem Wiederaufbau-Programm gelingen.
Denn bereits zu Beginn ihrer Amtszeit hat die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen den Ernst der Lage erkannt. Sie legte einen „Green European Deal“ vor und schlug auch für den neuen EU-Haushalt „grüne Investitionen“ vor. Durchgesetzt sind sie noch lange nicht. Denn nicht überall wo grün drauf steht, ist auch grün drin.

Die Wirtschafts- und Klimakrise gleichzeitig bekämpfen

Immer lauter werden die Stimmen, die mit Verweis auf die Folgen der Corona-Krise dafür plädieren, die Unternehmen jetzt nicht auch noch mit Klimapolitik zu „belasten“ – sie fordern graue statt grüner Wirtschaftspolitik. Doch genau hier besteht ein folgenreiches Missverständnis: Es gibt inzwischen genügend Nachweise dafür, dass Ökonomie und Ökologie kein Widerspruch sind, sondern sich gegenseitig voranbringen können. Die seit Jahrzehnten niedrige Produktivitätsrate in Europa könnte durch grüne Investitionen wachsen. Der Klimaschutz schafft neue Geschäftsmodelle und diese schaffen Arbeitsplätze, innovative Unternehmen leisten ihren Beitrag zum ökologischen Umbau. Dass das funktioniert, unterstreicht eine aktuelle Studie der University of Oxford, die 700 Konjunkturmaßnahmen untersucht hat. Das Ergebnis: Grüne Projekte schaffen mehr Arbeitsplätze, bieten eine höhere kurzfristige Rendite und führen zu größeren langfristigen Einsparungen im Vergleich zu traditionellen fiskalpolitischen Impulsen.

Deshalb steht die deutsche Ratspräsidentschaft vor einer historischen Aufgabe: Mit einem Real Green Deal könnte sie die Wirtschafts- und Klimakrise gleichzeitig bekämpfen. Dafür müssen die Milliarden, die jetzt in die europäische Wirtschaft fließen, jedoch strukturelle Reformen einleiten, um die Weichen in Richtung sozial-ökologische Marktwirtschaft zu stellen. Ein Real Green Deal braucht:

  • Ökologische Garantien: Das Wiederaufbauprogramm und der EU-Haushalt müssen sich an ökologischen Kriterien ausrichten. Das heißt: Wer europäisches Geld erhält, muss garantieren, dass es nachhaltig investiert wird – eine unabdingbare Konditionalität für Unterstützung aus Brüssel.
  • Eine europäische Energiewende: Europa braucht einen massiven, flächendeckenden Ausbau von erneuerbaren Energien. Auch für den Einstieg in eine grüne Wasserstoffwirtschaft braucht es deutlich mehr Strom aus Sonne, Wind, Wasser und Biomasse. Gleichzeitig sind Investitionen in grüne Zukunftstechnologien nötig. Wie eine solche europäische Energiewende aussieht, zeigt eine aktuelle Stellungnahme der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, der acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften und der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften.  Die Empfehlungen sind ein deutlicher Auftrag an die deutsche Ratspräsidentschaft, die Europäische Energiewende mit Sanktionsmechanismen für nationale Blockaden zu versehen.
  • Einen europäischen Investitionsplan für nachhaltige Infrastruktur und Industrie: Im Verkehrssektor und der Industrie werden die entscheidenden Weichen für die Transformation gestellt. Europa braucht klimakluge Investitionen in Schienen und Netz-Infrastrukturen, eine Beschleunigung des Umstiegs auf Elektromobilität und Anreize für einen Umbau der Industrie auf CO2-neutrale und ressourcenschonende Produktionsprozesse. Hier liegt auch eine Chance für die neuesten Mitglieder der Europäischen Union. In Ländern wie Rumänien, Bulgarien oder Kroatien könnten grüne Investitionen und das Schaffen von Jobs die Abwanderung gerade junger, qualifizierter Menschen stoppen. So kann ein Real Green Deal nicht nur den entwickelten Industriestaaten zu Gute kommen, denn die Klimakrise ist umfassend, ihre Bewältigung ist eine gesamteuropäische Aufgabe. 
  • Eine nachhaltige Agrarpolitik: Seit Jahren ist die Agrarpolitik Teil des Problems und nicht Teil der Lösung. Der neue Finanzrahmen bietet die Chance, dass sie zur Lösung wird. Auch Deutschland muss sich bewegen und Positionen räumen, die weniger an den langfristigen, gesamtgesellschaftlichen Interessen der Nachhaltigkeit, als vielmehr an den kurzfristigen Interessen der Agrarindustrie ausgerichtet sind. Die Verhandlungen hierzu fallen in die deutsche Ratspräsidentschaft. Die Bundesregierung muss endlich Farbe bekennen und sich deutlich für eine Verbindung von ökologischer Landwirtschaftspolitik und ökonomischer Nachhaltigkeit für mittlere und kleine Landwirtschaftsbetriebe einsetzen.
  • Eine sozial-ökologische Transformation: Das historische Vorbild des European Green Deal, der New Deal von Franklin D. Roosevelt in den USA der 1930er Jahre, war nicht nur ein wirtschaftspolitisches, sondern auch ein sozialpolitisches Reformprogramm. Der New Deal schaffte nicht nur Jobs, er führte auch zahlreiche soziale Errungenschaften ein wie Gewerkschaften, den Mindestlohn, die 40-Stunden-Woche, die Renten-, Sozial- und Arbeitslosenversicherung. Diese historischen Erfolge erinnern daran, dass tiefgreifende Transformationen sozialpolitisch flankiert werden müssen. Ein Real Green Deal muss nicht nur ökologisch vernünftig, sondern auch sozial sein. Nur so wird auch in Zukunft das Versprechen von Sicherheit und Wohlstand eingehalten.
  • Eine digitale Transformation: Eine ganze Reihe ökologischer Ziele wird nur zu erreichen sein, wenn digitale Technologien zum Einsatz kommen. Deshalb muss die digitale Transformation eingebettet sein in eine ökologischere Produktionsweise. Hier lauern von der Ressourcen- bis zur Governancefrage viele Herausforderungen. Die Corona-Krise hat gerade gezeigt, welches Potential in der Digitalisierung steckt, aber zugleich auch deutlich gemacht, dass bei der Sicherheit und der digitalen Gerechtigkeit große Lücken bestehen. Der Green European Deal muss hier ansetzen und mit den bereits gestarteten regulatorischen Initiativen verbunden werden.
  • Letztlich ein europäisches Klimaschutzgesetz: All diese Forderungen müssen während der deutschen Ratspräsidentschaft in einem europäischen Klimaschutzgesetz verankert werden. Rechtliche Verbindlichkeit ist eine wesentliche Voraussetzung. Sie schafft Planungssicherheit für Unternehmen und für die Bürger/innen. Ohne einen verbindlichen gesetzlichen Rahmen werden viele Forderungen vage bleiben und von politischen Tagesopportunitäten abhängen. Daher muss die deutsche Bundesregierung mit Hochdruck an der gesetzlichen Verankerung des Klimaschutzes in der EU arbeiten.

Bei der Vorstellung des „Green European Deal“ beschwor Ursula von der Leyen einen "man-on-the-moon"-Moment; sie verglich ihren Deal mit der Mondlandung. Dieses Pathos muss mit konkreten Aktivitäten unterlegt werden und sollte keine rhetorische Leerformel bleiben. Auch wenn der Widerstand aus einigen europäischen Regierungen und einem Teil der Industrieverbände deutlich ist: Eine klare Mehrheit der europäischen Bürger/innen will eine starke europäische Klimapolitik.

Für Deutschland unterstreicht das auch die von der Heinrich-Böll-Stiftung in Auftrag gegebene Umfrage „Selbstverständlich Europäisch“: Eine Mehrheit der Deutschen ist bereit, mehr Geld für europäische Investitionen in Zukunftsthemen in die Hand zu nehmen – vor allem im Bereich Klimapolitik. Die Europäerinnen und Europäer wollen einen Real Green Deal. Für die deutsche Ratspräsidentschaft öffnet sich ein window of opportunity, mit den Milliarden für das Wiederaufbauprogramm den Green Deal ein gutes Stück voranzubringen.