Keine Gerechtigkeit ohne Konsequenzen

Interview

Heute vor vier Jahren tötete ein Rechtsextremist neun junge Menschen aus rassistischen Motiven in Hanau. Unter den Opfern war auch Gökhan Gültekin. Über dessen Leben hat sein Bruder Çetin Gültekin ein Buch geschrieben, um ihm ein Denkmal zu setzen. Über die Kontinuitäten von Rassismus in Deutschland, das Versagen der Sicherheitsbehörden und die Frage, warum es keine Gerechtigkeit ohne Konsequenzen geben kann, spricht er im Interview.

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Seit vier Jahren setzt sich Çetin Gültekin gemeinsam mit der Initiative 19. Februar Hanau für Aufklärung, Gerechtigkeit, Erinnerung und Konsequenzen ein.

Lieber Çetin, vor kurzem ist dein Buch Geboren, aufgewachsen und getötet in Deutschland erschienen, in dem du das Leben deines Bruders Gökhan beschreibst, der am 19. Februar 2020 beim rassistischen Anschlag in Hanau getötet wurde. Was war deine Motivation, dieses sehr persönliche Buch zu schreiben?

Um Rassismus überhaupt besiegen zu können und ein ganz anderes Verständnis dafür zu ermöglichen, habe ich, so schmerzhaft es auch war, dieses Buch geschrieben. Ich will damit auch erreichen, dass Gökhans Name nie vergessen wird. Das Buch ist ein Mahnmal. Gökhan ist damit unsterblich.

Wie hast du den Abend des Anschlags erlebt?

Es war die Hölle. So einen Horror wünsche ich niemandem. Wir wurden seitens der Sicherheitsbehörden wie rechtlose Objekte behandelt. Ich hatte teils den Eindruck, wir wären die Täter. Wir waren einfach auf uns allein gestellt und haben keinerlei Unterstützung erhalten.

Das Versagen der Sicherheitsbehörden und die Enttäuschung darüber ist bei allen Angehörigen der Opfer groß. Was hat dich am meisten verletzt und ist dir im Gedächtnis geblieben?

Wir erhielten nicht einmal die Information, dass wir unsere Angehörigen noch vor den Obduktionen sehen konnten. Diese für alle Angehörigen wichtige Information wurde uns einfach vorenthalten.

Was hat sich in deinem Leben nach dem Anschlag verändert?

Alles. Alles, was vorher einen Sinn hatte, hat keinen Sinn mehr. Mein Leben ist komplett auf den Kopf gestellt. Ich wurde selber Ermittler, wir mussten selber aufklären. Im Grunde bin ich nach dem Tod meines Bruders Gökhan und dem zeitnahen Tod meines Vaters erwachsen geworden. Ich musste eine andere Rolle in unserer Familie einnehmen. Das ist schwer.

Wie würdest du deinen Bruder Gökhan beschreiben?

Er war ein Engel. Mein Bruder war ein Kämpfer, der in seinem Leben viele Schicksalsschläge erlebt hat und immer wieder aufgestanden ist. Dafür bewundere ich ihn. Ich schöpfe Kraft aus ihm. Ich glaube, es ist mir gut gelungen, Gökhan im Buch zu beschreiben, weshalb ich alle einlade, das Buch zu lesen.

Çetin Gültekin, geboren 1974, von Beruf Industriemechaniker, war bis zum rassistischen Terroranschlag vom 19.02.2020 selbstständig und leitete eine Speditionsfirma. In Hanau geboren, aufgewachsen und immer noch dort lebend, wurde er nach dem Attentat zu einem der bekannten Gesichter im Kampf gegen Rassismus und für Aufklärung im Namen seines getöteten Bruders, aber auch für die anderen Opfer und Hinterbliebenen. Gemeinsam mit seinem engen Freund Mutlu Koçak hat er das Buch Geboren, aufgewachsen und getötet in Deutschland geschrieben, erschienen 2024 im Wilhelm Heyne Verlag München.

Mölln, Solingen, NSU und Hanau. Die Reihe der rassistischen Anschläge der letzten Jahre in Deutschland ließe sich beliebig fortführen. Wieso versagt die deutsche Gesellschaft im Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus? Welche Fehler machen Gesellschaft und Politik?

Nehmen wir zum Beispiel die NSU-Morde: Fehler der Sicherheitsbehörden wurden nicht lückenlos aufgeklärt und es wurde keine politische Verantwortung übernommen. Aus den Fehlern wurde auch nicht gelernt, deswegen hat sich seit Jahrzehnten nichts geändert. Es gab nie Konsequenzen. Aber es gibt keine Gerechtigkeit ohne Konsequenzen.

Ein zunehmender Teil der Gesellschaft wählt Rechtsextremisten. Die Medien geben denen das Mikro, bieten ihnen eine Plattform, sodass sie dadurch überall präsent sind. Es liegt in unserer gesellschaftlichen Verantwortung, ob es Rechtsextreme gibt oder nicht gibt. Meine Frage an die deutsche Gesellschaft ist: Wer wählt die? Warum? Sogar Migrant*innen wählen die AfD und wählen somit ihre eigene Deportation. Ich habe ein mulmiges Gefühl.

Vor einigen Wochen brachten die Recherchen von Correctiv ein Geheimtreffen der AfD, Vertretern aus der Wirtschaft und dem rechtsextremen Milieu zu Tage. Seitdem demonstrieren hunderttausende Menschen wöchentlich auf den Straßen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus. Was empfindest du bei diesen Bildern und glaubst du, dass endlich ein Ruck durch die deutsche Gesellschaft geht?  

Diese Bilder haben eine ganz andere Dimension. Es geht nicht „nur“ um 9 Menschen in Hanau, 9 Menschen in München, die Opfer des NSU, nicht „nur“ um Geflüchtete, sondern um Deutsche. Die Bilder der großen Demonstrationen sind ein Zeichen: Nicht mit uns.

Aber wir haben auch in den letzten vier Jahren gesehen: es ist egal, was wir sagen und wie wir gegen Rassismus kämpfen. Gerade in Hanau wurde die AfD bei der Landtagswahl im Oktober 2023 doppelt so stark. Wie kann das sein? Ich kämpfe dafür, Rassisten zu entwaffnen. Und dann haben wir dieses Wahlergebnis in Hanau! Wenigstens hier hätte es doch ein Zeichen gegen Rechts geben können. Stattdessen haben die Rechten uns ein Zeichen gegeben. Wir schreien, demonstrieren und machen antirassistische Arbeit. Wir werden auch noch viele Jahre auf die Straße gehen! Aber Worte bleiben Worte. Es müssen Taten folgen. Die AfD hat Shisha-Bars als kriminelle Orte stigmatisiert – der Täter hat das umgesetzt. Die Solidarität ist zwar da, aber was folgt daraus?

Was erwartest du von der deutschen Gesellschaft im Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus?

Jede Person muss seine eigene Familie frei von Rassismus machen. Dann haben wir vieles geschafft. Alle tragen hierfür die Verantwortung.

Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland

Am 19. Februar 2020 ermordete ein Attentäter in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven. Gökhan Gültekin war einer von ihnen. Çetin Gültekin erzählt in seinem gemeinsam mit Mutlu Koçak entstandenen Buch die berührende Geschichte seines Bruders und zeigt: Wir sind nicht »die Anderen«, wir sind ein Teil der deutschen Gesellschaft.

Gökhan wurde 1982 in Hanau geboren, die Eltern stammten aus der Türkei. Vor dem Anschlag war er bereits zweimal knapp dem Tod entkommen, hatte sich immer wieder ins Leben gekämpft und nie seine positive Art verloren. Doch am 19. Februar 2020 überlebt er nicht. Für die Angehörigen beginnt damit ein Albtraum. Die Familie ist zerrissen zwischen Trauer und dem Kampf um Gerechtigkeit, denn immer wieder kommen neue Versäumnisse der Behörden ans Licht. Seither setzt sich Çetin Gültekin dafür ein, dass die Opfer und deren Geschichten nie vergessen werden – und kämpft unermüdlich gegen den tief verwurzelten Rassismus in Deutschland.

Zum Buch und zur Leseprobe

In Gedenken an an Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.


Dieser Artikel erschien zuerst hier: heimatkunde.boell.de