Mit der Einführung eines Ölembargos könnte der wirtschaftliche Druck auf Russland deutlich gesteigert werden. Zwar würde es die russischen militärischen Fähigkeiten in den kommenden Monaten kaum beeinträchtigen. Allerdings ist derzeit unklar, wie lange der Krieg andauern wird, und ob er nicht doch noch weitere Kreise zieht. Im schlimmsten Fall finanziert der Westen aktuell einen zukünftigen Krieg gegen sich selbst.
Als Reaktion auf Russlands Angriff auf die Ukraine hat ein breites Bündnis westlicher Staaten präzedenzlose Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt. Die kombinierten Maßnahmen gegen Großbanken und die Zentralbank haben das russische Finanzsystem hart getroffen. Mindestens ebenso schwer wiegen die Unsicherheit und das Selbst-Sanktionieren vieler westlicher Unternehmen, also die Einstellung eigentlich weiterhin erlaubter Geschäfte mit Russland. Aus Angst vor Reputationsschäden und einer weiteren Eskalation der Sanktionen gegen Moskau ist ein großer Teil des wirtschaftlichen Austauschs derzeit pausiert.
Die Erlöse aus Öl und Gas kommen weiterhin zuverlässig in Russland an
Gleichzeitig verfügt Russland weiterhin über hohe Deviseneinnahmen. Russland exportierte im vergangenen Jahr ca. 7,5 Millionen Barrel Öl und Ölprodukte pro Tag. Bei einem durchschnittlichen Preis von 100 US-Dollar pro Barrel der russischen Ölsorte Urals in den ersten beiden Märzwochen könnten diese Exporte rechnerisch rund 750 Millionen US-Dollar pro Tag ergeben. Hinzu kommen Erlöse aus dem Gasexport, die sich ohne Einsicht in nicht-öffentliche Lieferverträge schwer bestimmen lassen. Im Jahr 2021 waren Gazproms Einnahmen mit rund 150 Millionen US-Dollar pro Tag deutlich geringer als die aus dem russischen Ölverkauf, allerdings haben sich die Spotpreise für Gas seitdem vervielfacht, sodass auch hier von einem deutlich höheren Betrag ausgegangen werden muss. Hinzu kommen Erlöse aus dem Handel mit Metallen, Kohle und Holz.
Damit die Erlöse aus Öl und Gas zuverlässig in Russland ankommen, haben EU und USA einige größere Banken wie bspw. die Gazprombank von den härtesten Sanktionen verschont. Die hohen laufenden Deviseneinnahmen haben es der russischen Zentralbank ermöglicht, in Verbindung mit strengen Kapitalkontrollen den Kurs des Rubels in Russland zunächst zu stabilisieren. Weil der Abfluss von Devisen aus Russland aktuell durch Verbote und gesunkene Importe stark eingeschränkt ist, dürfte diese Stabilisierung sich fortsetzen und könnte auch einen weiter steigenden Rubel zur Folge haben. Wenn außerdem in den kommenden Wochen die Unsicherheit bei den Handelspartnern abnimmt, also sich die Erwartung festigt, dass keine weiteren Sanktionen mehr folgen, dürfte sich auch jenseits von Öl und Gas der Handel mit Russland wieder ein stückweit beleben.
Russlands Ökonomie steht vor einer Transformation
Es besteht gleichzeitig kein Zweifel darüber, dass Russland in diesem Jahr in eine tiefe Wirtschaftskrise stürzt. Die Kombination von fehlenden Investitionen, dem Abzug vieler westlicher Konzerne und einem strengen Technologieembargo wird Russlands Ökonomie transformieren. Die Sanktionen werden den Lebensstandard in Russland deutlich senken und die Wirtschaft technologisch primitiver machen. Allerdings wird Russland aufgrund der hohen Deviseneinnahmen nicht zahlungs- oder handlungsunfähig werden. Vielmehr entwickelt sich das Land stärker in die Richtung eines Petrostaats: Die Bevölkerung wird stärker davon abhängig sein, dass der Staat die zentral anfallenden Deviseneinnahmen aus dem Export von Rohstoffen an sie umverteilt, um ein bescheidenes Leben zu ermöglichen. Viele Güter, die heute noch in Russland hergestellt werden, werden zukünftig nur noch als Endprodukt aus dem Import verfügbar sein.
Selbst das härteste Ölembargo würde Russlands Deviseneinnahmen bestenfalls reduzieren
Durch ein Ölembargo könnte der Druck auf Russland deutlich erhöht werden, weil es die Deviseneinnahmen treffen würde. Wie stark dieser Effekt ausfallen würde, hinge von der konkreten Ausgestaltung ab. Unilaterale Embargos, wie es bspw. USA und Kanada eingeführt haben, haben meist nur eine kurzfristige und schwache Wirkung, weil es nur zu einer Umlenkung von Handelsströmen führt: Die russischen Lieferungen werden an andere Staaten verkauft, und die bisherigen Lieferanten dieser Staaten liefern an die USA und Kanada. Ein unilaterales Embargo der EU hätte dagegen schon eine etwas stärkere finanzielle Wirkung auf Moskau, weil ein großer Teil des EU-Imports russischen Öls über die Druschba-Pipeline ankommt. Russland könnte die Öllieferungen dieser Pipeline auch zu russischen Häfen umleiten und dann per Schiff nach Indien oder China verkaufen, allerdings wären die Transportkosten dann deutlich höher.
Wirklich durchschlagende Wirkung hätte aber nur ein Embargo nach dem Vorbild der Iran-Sanktionen, die auf die extraterritoriale Reichweite US-amerikanischer Maßnahmen setzt: Mit der Androhung von Sekundärsanktionen könnte Washington auch Ölhändler in Indien und China relativ wirkungsvoll davon abhalten, russisches Öl zu kaufen. Damit würden Russlands Ölexporte tatsächlich spürbar fallen, allerdings wäre auch die Auswirkung auf dem internationalen Ölmarkt zumindest vorübergehend sehr stark. Russland könnte auch dann (wie derzeit Iran) vermutlich noch Restmengen exportieren und würde dabei von den stark gestiegenen Preisen profitieren. Selbst mit dem härtesten Ölembargo ließen sich also Russlands Deviseneinnahmen bestenfalls reduzieren.
Ziele eines Ölembargos
Die politische Wirkung eines Ölembargos lässt sich entlang drei verschiedener Ziele interpretieren, die sich bei der Analyse von Wirtschaftssanktionen etabliert haben: Die Signalwirkung, der Aufbau von Verhandlungsmasse bzw. die Anreizwirkung für Verhaltensänderung, sowie das Containment, also die Einschränkung der militärischen Möglichkeiten Russlands. Ein Embargo könnte allen drei Zielen dienen, allerdings nur teilweise den Kriegsverlauf in der Ukraine in den nächsten Monaten beeinflussen.
Signalwirkung
Mit einem Ölembargo würde der Westen signalisieren, dass er bereit ist, hohe Kosten zu tragen, um seine sicherheitspolitischen Interessen gegen Russland zur verteidigen. Für die Signalwirkung ist also auch der Preis entscheidend, den der Westen selbst für die Maßnahme zahlt. Das Signal ist nicht nur auf wirtschaftliche Maßnahmen beschränkt: Wenn der Westen bereit ist, trotz eigener Kosten und politischer Widerstände ein Ölembargo gegen Russland einzuführen, verleiht das auch der kollektiven Verteidigungsbereitschaft im NATO-Bündnisfall Glaubwürdigkeit, der ebenfalls in vielen NATO-Staaten politisch unpopulär sein könnte. Auch ist Russland nicht der einzige Empfänger des Signals. Die Entschlossenheit der westlichen Sanktionen wird in Zukunft auch in Pekings außenpolitisches Kalkül einfließen.
Bezogen auf Russlands Invasion in die Ukraine ist allerdings weniger klar, was das Embargo signalisieren könnte. Die Drohung eines Militäreinsatzes will der Westen bewusst nicht aussprechen – das Ölembargo wäre also eher ein Ersatz für ein militärischen Eingreifen als eine Vorstufe dazu. Die Maßnahme könnte also nur eine weitere Verschärfung der Sanktionen glaubhaft signalisieren, also etwa ein vollständiges Embargo bei Handel und Finanzen gegen Russland. Allerdings sind die Wirtschaftsbeziehungen außerhalb von Öl und Gas bereits durch die Selbst-Sanktionen vieler Unternehmen stark eingeschränkt, sodass die abschreckende Wirkung eines vollständigen Embargos für alle Güter und Dienstleistung zumindest kurzfristig beeinträchtigt sein könnte.
Verhandlungsmasse
Im Gegensatz zu anderen Sanktionen sind Ölembargos sehr gut geeignet, um Verhandlungsmasse aufzubauen, um etwa im konkreten Falle Russlands einen Abzug der Truppen zu erreichen. Während Finanzsanktionen das internationale Vertrauen in einen Wirtschaftsstandort nachhaltig zerstören und damit ihre Wirkung auch nach ihrer Aufhebung erst über Jahre abklingt, braucht es für den Ölhandel kaum gegenseitiges Vertrauen von Handelspartnern. Bereits am Tag nach einem Abzug russischer Streitkräfte könnten Lieferungen in Milliardenhöhe in Gang gesetzt werden. Durch ein Ölembargo entsteht also eine sehr starke „Karotte“, die etwa im Fall von Iran zumindest hilfreich gewesen sein dürfte, um 2015 zu einem Abkommen zu gelangen. Ähnlich könnte auch Moskau in Aussicht gestellt werden, dass es nach Rückzug seines Militärs die Öllieferungen wieder aufnehmen kann.
Die Anreizwirkung eines Ölembargos wird aber durch die derzeit laufenden Bemühungen eingeschränkt, sich grundsätzlich von russischem Öl, bzw. langfristig auch von fossilen Energieträgern insgesamt unabhängig zu machen. Hat der Westen ein Embargo gegen Russland erst einmal eingeführt und der globale Ölmarkt dieses durch Produktionssteigerungen in anderen Staaten „verdaut“, wäre eine Aufhebung des Embargos im Westen kaum konsensfähig; zumindest nicht, solange Wladimir Putin in Russland an der Macht ist. Russland könnte also bestenfalls damit rechnen, nach einem wieder aufgehobenen Embargo vorübergehend für einige Jahre geringere Mengen Öl an den Westen zu verkaufen, bevor sich der Geldhahn endgültig schließt.
Containment
Das in der Debatte um ein Ölembargo am häufigsten zu Felde geführte Ziel ist das des Containments Russlands, d.h. die Hoffnung, dass Russlands Möglichkeiten zur Kriegsführung eingeschränkt werden, wenn die Deviseneinnahmen aus dem Westen ausbleiben. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die hohen Einnahmen aus Öl und Gas es Russland überhaupt erst ermöglicht haben, die hohen Ausgaben für Rüstung und Militär in den vergangenen Jahren zu tragen. Den aktuell laufenden Krieg gegen die Ukraine hat der Westen also bereits in den vergangenen Jahren vorfinanziert. Die laufenden Kosten von Russlands Invasion dürften dagegen verhältnismäßig gering sein. Außerdem fallen sie in Rubel an. Selbst ein vollständiges Embargo könnte also Russlands militärische Möglichkeiten in der Ukraine in den kommenden Monaten kaum einschränken.
Allerdings ist derzeit völlig unklar, wie lange Russlands Krieg gegen die Ukraine noch andauern wird, und ob er nicht doch noch weitere Kreise ziehen könnte, also im Extremfall auch zu einer direkten Konfrontation mit der NATO führt. Bei einem mehrjährigen Krieg könnten die Devisen, die westliche Staaten heute nach Moskau überweisen, durchaus einen Unterschied machen. Im Worst-Case-Szenario finanziert der Westen aktuell einen zukünftigen Krieg gegen sich selbst. Zwar würde Russland im Fall eines Kriegs mit der NATO zweifellos vollständig von westlichen Zahlungssystemen abgeschnitten werden, allerdings könnte Moskau bis dahin die aus dem Energiehandel eingenommenen Devisen dafür verwenden, seine militärische Schlagkraft zu erhöhen.
Lehre des russischen Überfalls auf die Ukraine
Außer den drei aufgeführten Zielen eines Ölembargos spielen in der Debatte schließlich auch normative Argumente eine große Rolle. Selbst wenn sich eine unmittelbare Wirkung eines Ölembargos auf den Krieg nicht hieb- und stichfest darlegen lässt, ist es doch andersherum kaum zu rechtfertigen, täglich über eine Milliarde US-Dollar noch Moskau zu überweisen, während das russische Militär gleichzeitig unmittelbar für viele tausend Tote und das Leid Hunderttausender anderer verantwortlich ist. Diese normative Sicht sollte nicht kühl als bloße Gefühlswallung abgetan werden. Schließlich fußen auch die weiter oben dargelegten analytischen Betrachtungen auf einer Vielzahl von Annahmen, die sich nicht sicher belegen lassen.
Eine Lehre des russischen Überfalls auf die Ukraine ist, dass gerade die Annahmen über das Verhalten der russischen Führung mit großer Unsicherheit behaftet sind. In der Retrospektive wäre die westliche Politik gegenüber Russland an vielen Stellen besser beraten gewesen, einem moralischen Kompass zu vertrauen, anstatt sich auf eine unterstellte Rationalität des Kremls zu verlassen. Wenn dieser moralische Kompass nun ein Ölembargo nahelegt, muss ein Verzicht darauf zumindest gut begründet werden, um nicht in einer zukünftigen Retrospektive erneut die gleiche Schlussfolgerung ziehen zu müssen.
Von Dr. Janis Kluge, Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien, Stiftung Wissenschaft und Politik