Auf die Frage, was gute Pflege und gepflegtes Altern ausmacht, gibt es viele Antworten. Eine konkrete Vision: Gut vermittelte Kompetenzzentren als wertschätzende und menschenzentrierte Räume, in denen gesundheitliche, soziale und technische Dienstleistungen barrierefrei und ohne bürokratischen Aufwand zur Verfügung gestellt werden. Um aus der Theorie in die Praxis zu kommen, braucht es einen politischen Paradigmenwechsel.
Bessere Fragen stellen
Alten-WG oder Pflegeheim? Staatliche Pflegeversicherung oder private Vorsorge? In die Nähe der Kinder ziehen oder lieber am vertrauten Ort bleiben? Pflegeroboter oder Therapiehund? Essen auf Rädern oder Supermarkt-Lieferdienst? Gerätemedizin oder assistiertes Sterben? Mit derartigen Quizfragen lassen sich zuverlässig Familientreffen ruinieren, lässt sich der Alkoholpegel bei Geselligkeiten im Ü40-Freundeskreis in die Höhe treiben. Immer findet sich mindestens eine Person, die gerade die eigenen Ü70-Eltern in die zunehmende Hilfsbedürftigkeit begleitet und sich angesichts der allseitigen Unzulänglichkeiten und Überforderung vornimmt, es selber mal ganz anders und besser zu machen.
Bloß die Frage, wie das aussehen soll und gehen kann, die lässt sich mit dem großen dichotomischen Altenquiz eben nicht beantworten. Weil jedes Altwerden anders ist, abhängig von unzähligen biographischen wie biologischen Zufällen und unbeeinflussbaren Umständen sowie ein paar Entscheidungen, deren Folgen sich möglicherweise mit 80 anders darstellen als sie mit 45 gedacht waren. Was ganz und gar nicht heißen soll, dass es müßig wäre, über das Alter und die dafür nötigen Hilfestellungen nachzudenken. Aber es wird Zeit, bessere Fragen zu stellen.
Gute Konzepte gibt es in großer Zahl
Welche das sein können, darüber forschen seit Jahrzehnten empirisch und theoretisch Soziolog*innen, Demographen, Altersforscher*innen, Psycholog*innen, Gerontolog*innen und noch viele andere Personen mit nützlichen Qualifikationen und Erfahrungen. Druckten wir all die Altenberichte, Pflegereporte und Care-Manifeste aus, ließen sich aus den Papierbergen vermutlich ganz brauchbare Rampen für nicht abgesenkte Bürgersteige zusammenleimen. Was allerdings wirkliche Verschwendung wäre. Denn in diesen weitgehend aus öffentlichen Geldern finanzierten Untersuchungen finden sich nicht nur zahlreiche Fragen, die weiterführen beim Nachdenken übers Alter, sondern auch Antworten. Deren Grundtenor klingt erstaunlich oft erstaunlich ähnlich, ob nun eine Stiftung die Studie in Auftrag gegeben hat oder die Bundesregierung, ob es nur um Deutschland geht oder gleich um das ganze alternde Europa – in vier zentralen Punkten herrscht große Einigkeit:
- Für eine gute Hilfe und Pflege im Alter braucht es Profis genauso wie Laien. Angehörige und Freunde und alle Beteiligten benötigen Rahmenbedingungen, unter denen sie sich nicht verausgaben müssen.
- Derartige Rahmenbedingungen lassen sich schlecht bis gar nicht vereinbaren mit den Profit- und Renditeerwartungen, die in Teilen der Privatwirtschaft mittlerweile als normal gelten. Anders gesagt: Menschenwürdige Pflege wird immer vorrangig eine Aufgabe der gesellschaftlichen Daseinsvorsorge bleiben und keine lukrative Anlagemöglichkeit.
- Die schönsten Altersheime, Pflegehilfsmittel, digitalen Assistenzsysteme, Demenzberatungsstellen, Rollstuhlreisen und was es sonst noch alles gibt und geben wird, bleiben wirkungslos, wenn sie von denen, die sie nutzen sollen, nicht gefunden werden. Oder nicht bedient werden können. Oder nicht bezahlt. Da der alte Mensch eher weniger Energie hat als der junge, sind weite verzweigte Wege und komplizierte Zugänge dringend zu vermeiden – online wie offline.
- Das alte emanzipatorische wie demokratische Motto »Nothing about me, without me« verliert Ü60 nicht plötzlich seine Gültigkeit. Auch wenn Menschen irgendwann nicht mehr alles allein können: Beteiligung und Mitentscheiden ist zu ermöglichen, wenn im Gegenzug die Übernahme von Verantwortung erwartet wird.
Werfen wir einen Blick ins Jahr 2036
Zwischen diesen ebengenannten vier Eckpunkten öffnet sich ein Raum, um sich das gut gepflegte Altern, sagen wir im Jahr 2036, anschaulich vorzustellen: Sein Zentrum, im wörtlichen Sinne, kann eine Bibliothek sein oder ein Nachbarschaftstreff, eine Poliklinik oder ein Bürgeramt – in jedem Fall ein öffentlicher Ort, zu dem alle Ü65- Jährigen im Umkreis von ungefähr fünf Kilometern Zugang haben. Nicht nur theoretisch, sondern tatsächlich. Wer sich im Individualverkehr per Dreirad, E-Mobil oder im ÖPNV nicht mehr sicher fühlt, kann eine kostenfreie E-Bike-Rikscha in Anspruch nehmen. In diesem Zentrum findet sich mindestens einmal pro Woche alles, was in der Altersgruppe wichtiger wird als zuvor: Hausärztliche Versorgung, aber auch die Möglichkeit, gemeinsam mit anderen Mahlzeiten zuzubereiten, einzunehmen und Zeit zu verbringen, sowie praxisnahe Beratung zu Pflege und Hilfsmitteln. Letztere, ob nun Rollator, E-Rollstuhl, Bettenlifter oder Pflegroboter, können nur noch ausgeliehen werden. So viel Sharing-Economy wird selbstverständlich sein, auch nachdem sich die E-Scooter der 2020er Jahre doch eher als kurzfristiges Gimmick erwiesen haben. Doch niemand will 2036 noch Millionen aus den Geldern der Bürgerversicherung in Gerätschaften versenken, die nach ein paar Jahren Gebrauch auf Nimmerwiedersehen in Kellern von Privathaushalten oder Pflege-Einrichtungen verschwinden, nur um profitorientierten Sanitätshäusern eine nie versiegende Einkommensquelle zu ermöglichen. Stattdessen finden viele ehemals im Auto- oder Flugzeugbau Beschäftigte neue sinnvolle Arbeit im Warten, Reparieren, Weiterentwickeln und »customizing« der High-Tech-Hilfsmittel. Gespräche mit den Nutzer*innen sind dabei ihre wichtigste Inspirationsquelle. Ähnlich läuft es mit all den smarten digitalen Geräten und Programmen: Aus den Silicon-Valley-Phantasmen-Bubble entkommene Programmier*innen lassen sich von den Ü65-Nutzer*innen erklären, was diese sich wünschen und brauchen. Dann ermöglichen sie das so ressourcenschonend wie eben möglich – wobei Nerven und Zeit als mindestens ebenso wertvoll angesehen werden wie seltene Erden oder Strom.
Ein Netzwerk der Menschlichkeit entsteht
Womit wir bei einer zentralen Funktion dieses sozialen Kompetenzzentrums wären, das selbstverständlich nicht in der Art einer »All-inclusive-Ferienanlage« der Gegenwart zukünftig die halbe Kommune zuwuchern soll. Also werden vernünftigerweise viele der nötigen Menschen und Dinge weiterhin anderswo zu finden sein. Aber nicht ich als Ü65 bin es, die nach ihnen suchen muss, sondern sie werden mir vermittelt. An einem Ort, unter einer Email-Adresse, Internetpräsenz, Telefonnummer. Sollte ich zu vergesslich, blind, gehörlos, gehbehindert oder was auch immer sein, wird mir an diesem Ort dennoch geduldig geholfen, mit dem und den für mich Nötigen in Kontakt zu kommen und zu bleiben. Sollte ich diese Kommunikation gar nicht mehr selbst erledigen können, werden diejenigen, die für mich sorgen – professionell wie ehrenamtlich – in diesem Zentrum von aller auslagerbarer Bürokratie entlastet. Sie haben hier Aufenthaltsräume für die notwendigen Besprechungen im Pflegeteam, können essen, trinken, vielleicht sogar mal eine Runde Yoga machen oder ein Mittagsschläfchen. Spracherkennungssoftware verarbeitet ihre wichtigen Beobachtungen für die Pflegdokumentation weiter und speichert sie auf sicheren Servern. Pflegeroboter werden nach ihren Erkenntnissen gebaut, programmiert, eingesetzt.
In einem derart wertschätzenden, menschenzentrierten Raum wird es dann auch wieder möglich sein, Fachkräfte für die Pflege zu gewinnen. Weil es auch möglich sein wird, zwischen den unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern im sozialen Kompetenzzentrum zu wechseln. Niemand muss sich mehr 20 Berufsjahre lang den Rücken kaputtmachen bei der Arbeit »am Bett« oder sich tagein-tagaus die Ohren volljammern lassen in irgendeiner Beschwerde-Hotline. Vor allem aber wird die Existenz eines derartig engmaschigen Netzwerks der Menschlichkeit auch dazu beitragen, dass sich alle Ü40 wirklich überlegen können, wer aus ihrem persönlichen Umfeld denn später zum Care-Team gehören könnte. Mit diesen Menschen ist dann offen zu sprechen, über Lieblingsspeisen, Einschlafrituale, Glücksmelodien, verhasste Fernsehprogramme und andere Intimitäten, die irgendwann bei fortgeschrittener Demenz entscheidend sein werden für die Lebensqualität. Ist diese grundlegende Fürsorge und Verantwortung gesichert, dann sind die Fragen, ob ein Mensch oder ein Roboter Essen anreichen und beim An- und Ausziehen helfen oder ob das Bett in einem Altenheim steht oder in der früheren Wohnung vielleicht gar nicht mehr so entscheidend.
Care-Mainstreaming als politische Forderung
Dass diese Vision des menschlichen Alterns nicht nur theoretisch funktioniert, beweisen schon heute Best-Practice-Beispiele wie das aus den Niederlanden importierte Pflegedienstmodell »Buutzorg«,die »Zeitbezogene Pflege« der Caritas Hochrhein oder die »Liebende Kommune« im dänischen Aarhus genau wie unzählige weitere Modellprojekte und ungenannte selbstorganisierte fürsorgliche Familien- und Freundeskreise. Trotz größter Anstrengungen weisen sie alle derzeit aber bestenfalls als Leuchttürme Wege durch den Ozean kollektiver Verdrängung der Gebrechlichkeit jeglichen Lebens. Diese Verdrängung mag ebenso systemimmanent wie systemrelevant sein, realistisch ist sie nicht. Denn, wie es Karin Jurczyck, Maria S.Rerrich und Barbara Thiessen aus dem feministischen Bündnis »Care-macht-mehr« formulieren: »Abhängigkeiten von Anderen und die Sorge füreinander sind keine Randerscheinungen, die auf kleine Gruppen der Gesellschaft reduziert sind. Vielmehr besteht menschliches und gesellschaftliches Leben aus Interdependenzen, denen mit unterschiedlichen Arten von Care begegnet wird. Eine faire Gesellschaft muss deshalb an diesen – für die Existenz aller – notwendigen Tätigkeiten und Bedarfen ausgerichtet werden.« Daraus ergibt sich zwangsläufig die Forderung, in ökonomischen und sozialpolitischen Planungsprozessen »CareMainstreaming« einzuführen. Also, »bei allen politischen Maßnahmen aller Ressorts die Auswirkungen auf Menschen, die Care-Verantwortung tragen, Care-Tätigkeiten leisten oder die Care benötigen, als verpflichtende Dimension bei Entscheidungen« zu berücksichtigen.
Nur ein derartiger politischer Paradigmenwechsel wird die Ressourcenumverteilung sicherstellen, die notwendig ist, um ein gepflegtes Altern, wie es hier skizziert wurde, tatsächlich für alle zu ermöglichen. Damit ist nicht nur eine angemessene Bezahlung der professionell Pflegenden gemeint und eine Kostendeckelung für die Nutzerinnen im Sinne der doppelten Pflegegarantie. Es geht auch um die Ausweitung der Ansprüche auf Pflegezeiten für Berufstätige, wie sie vom unabhängigen Beirat für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf empfohlen werden, ohne dass diejenigen, die sie in Anspruch nehmen, ihre eigene ökonomische Existenz gefährden. Nicht zuletzt geht es auch um den Aus- und Umbau öffentlicher Infrastruktur, von Gesundheit über Mobilität bis zu Immobilien. Wann gäbe es einen besseren Zeitpunkt, mit einem derartigen »Care-Mainstreaming« zu beginnen, als jetzt, da uns Boomer das Altern zum Greifen nah ist? Und, die gute Nachricht für alle Millenials, Zoomer und GenAlphas: Eine Care-Struktur, die für die prognostizierten 20 Millionen Ü67 im Jahre 2035 tauglich ist, wird auch zukünftige Pandemien, Klimakrisen und was sonst noch alles kommen mag, besser tragen können.
Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de